Frieder
Nake
Einmaliges und Beliebiges
Künstliche
Kunst im Strom der Zeit
Aufsatz
anläßlich der Berliner Sommer-Uni '95
0. Vorbemerkung
"Mensch
und Kunst im Computerzeitalter" so lautete das Motto der Berliner
Sommer-Uni '95. Gibt es denn ein Computerzeitalter? Stecken wir in
ihm drin, bewegen wir uns darauf zu, kommt es unausweichlich?
- Das Computerzeitalter
wäre das Zeitalter, das durch den Computer bestimmt wird.
Sagen wir etwas vorsichtiger: das durch die Informationstechnik
bestimmt wird. Wir betrachten dabei den Computer als eine Maschine,
die wichtig und wesentlich für die Informationstechnik ist,
die wohl auch den Kern der Informationstechnik ausmacht, mit der
die Informationstechnik aber nicht schon erschöpfend erfaßt
ist.
Dieser Aufsatz ist nicht der Ort, die Berechtigung der Bennennung
unserer Zeit als "Computerzeitalter" anzugreifen oder zu
verteidigen. Man mag mit guten Gründen die Geste in Frage stellen,
mit der ein ganzes Zeitalter durch eine Klasse von Maschinen gekennzeichnet
wird. Ohne die wichtige Rolle des Computers für aktuelle Umwälzungen
historischer Dimension zu leugnen, mag er doch nicht unbedingt und
in allen Belangen prägend sein.
Wie dem auch sei zentrale Bedeutung hat "der Computer"
auf vielen Ebenen abendländischer Kultur gewonnen. Innerhalb
der relativ kurzen Zeit von fünfzig Jahren ist er zu einer häufigen
Erscheinung geworden. Oft nehmen wir sie gar nicht mehr wahr, worin
ich ein Indiz für des Computers kulturelle Bedeutung sehe. Kulturell
wirksam wird eine Sache u.a. ja dadurch, daß wir ihr Vorhandensein
und Wirken als selbstverständlich unterstellen.
1. Die semiotische Maschine
Ich
stelle an den Anfang meiner Bemerkungen die Kennzeichnung des Computers
als semiotische Maschine. In dieser Kennzeichnung kommt das wesentliche
Merkmal des Computers zum Ausdruck. Er gehört fraglos zur Welt
der Maschinen, ragt aus ihr aber heraus, weil sein Gegenstand, der
Gegenstand also, den wir mit dieser Maschine bearbeiten können,
nicht primär stofflicher oder energetischer Natur ist, sondern
eben semiotischer Natur. Wir haben es mit Zeichenwelten zu tun, wenn
wir Computer benutzen, wir setzen Zeichenprozesse maschinell um und
in Gang, nicht stofflich-dingliche Prozesse. Wir bearbeiten nicht
das Blech selbst im Computer, sondern ein Modell des Bleches; wir
verwalten nicht die Akten selbst, sondern Daten-Abbilder der Akten;
wir untersuchen nicht ein Organ des Menschen selbst, sondern ein digitales
Bild davon.
Der Computer sei eine semiotische Maschine, lautet die Behauptung;
er handele von Zeichen und Zeichenprozessen [vgl. Andersen 90, Coy
et al. 92, Andersen et al. 93, Nake 93].
Gemeint ist damit die schlichte Tatsache, daß kein Ding oder
Prozeß unmittelbar Gegenstand der Bearbeitung mit dem Computer
werden kann. Immer muß das Ding oder der Prozeß erst durch
ein Bild, ein Modell, eine Beschreibung - eben: ein Zeichen - ersetzt
werden. Im landläufig gängigen Fall sind das die Daten,
die erfaßt werden. Sie ersetzen in einem radikalen, oft sehr
unangenehm wirkenden Sinne Ding und Prozeß. Wir gewinnen mit
dieser Ersetzung das, was wir bei jedem Zeichenprozeß gewinnen:
Vorhersagbarkeit, Simulation, Prüfung, kurz: Gestaltung. Kein
Prozeß der Gestaltung beginnt ohne Zeichen. Zeichenprozesse
sind vorzügliche Mittel der Gestaltung. Im Zeichen gewinnen wir
jene Distanz, die notwendig ist, um planvoll gestalten zu können.
Wenn der Computer nun zwar eine semiotische Maschine ist, so ist er
doch eine Maschine. Jede Maschine verlangt die Gegenstände, die
mit ihr bearbeitet werden sollen, in bestimmter Form. Der Computer
verlangt die Zeichen in berechenbarer Form. Er ist die Maschine zur
Ausführung berechenbarer Funktionen. Dies ist seine technisch
korrekte Kennzeichnung. "Computer" und "Auswertung
berechenbarer Funktionen" sind geradezu synonym. Nur, was berechenbar
geformt werden kann, kann auf dem Computer behandelt werden. Was auf
dem Computer behandelt wird, ist insofern berechenbar.
Der Begriff der Berechenbarkeit, der hier zugrundegelegt wird, ist
ein mathematisch exakter Begriff. Er geht auf die dreißiger
Jahre zurück und auf Leute wie A.M. Turing, E. Post, A. Church.
Seine mathematischen Einzelheiten spielen hier keine Rolle. Angedeutet
sei lediglich, daß "berechenbar" ist, was sich auf
wenige, einfache Grundfunktionen und wenige Regeln zurückführen
läßt. Wir wissen genau zu sagen, was berechenbare Funktionen
sind. Und es ist erstaunlich, was alles berechenbar ist.
Nicht alles aber ist im mathematischen Sinne berechenbar. Noch nicht
einmal alle Formeln, die wir hinschreiben können, sind es. Wenn
wir berechnen wollen, müssen wir unseren Gegenstand erst berechenbar
machen.
Den Begriff des Zeichens verwende ich hier naiv, ohne ihn näher
zu erklären. Angedeutet aber sei, daß ein Zeichen eine
Relation ist, kein Ding. Genauer ist ein Zeichen eine dreistellige
Relation: ein Erstes steht für ein Zweites vermittels eines Dritten.
Oder, anders ausgedrückt: ein Repräsentamen steht für
ein Objekt vermittels eines Interpretanten. Dies sind Begriffe aus
der Semiotik von Charles S. Peirce [vgl. Peirce 83]. Repräsentamen
ist das Zeichen insofern, als es zunächst ein stoffliches Substrat
braucht; es steht in einer bezeichnenden Funktion zu seinem Objekt;
und diese Bezeichnung gewinnt Bedeutung, ergibt einen Sinn in einem
Interpretanten. Ihn stellen wir hier und jetzt und stets neu und anders
her. In ihm liegt die besondere Kraft dieser Begrifflichkeit.
Ein Beispiel mag erhellen. Das rote Licht (bezeichnendes Repräsentamen)
am Heck des Autos vor mir bezeichnet einen Bremsvorgang dieses Wagen
(bezeichnetes Objekt) und hat für mich die Bedeutung: der wird
langsamer, es ist ratsam, auch zu bremsen (Interpretant). Was ich
dann tue, ist ein anderes. Vielleicht ordne ich auch einen anderen,
ästhetischen Interpretanten zu, weil ich mich am Glanz dieses
roten Lichtes erfreue.
Die Betrachtung des Zeichens allein als Repräsentamen ist Aufgabe
der Syntaktik; Repräsentamen mit Objekt werden in der Semantik
studiert; tritt der Interpretant noch hinzu, so betreiben wir Pragmatik
des Zeichens. Nur in der Pragmatik haben wir das Zeichen als Ganzes.
Einen ersten Reduktionsschritt nehmen wir vor, wenn wir vom Interpretanten
absehen; Bedeutung ist uns dann nicht mehr verfügbar. Ein zweiter
Reduktionsschritt bringt uns auf die Zeichen als bloße Zeichenkörper
in der Syntaktik.
Dinge und Prozesse durchlaufen im Computer-Zeitalter - wenn sie computeresk
werden sollen - drei wesentliche Transformationen: Aus den Dingen
werden Zeichen (semiotische Transformation), aus den Zeichen werden
bloße Zeichenkörper (syntaktische Transformation), aus
den bloßen Zeichenkörpern werden berechenbare Funktionen
(algorithmische Transformation). Jede dieser Transformationen erleben
wir als eine Reduktion: Verlust von Sinnlichkeit, Verlust von Bedeutung,
Verlust von Unvorhersehbarkeit.
Mit Computern - das heißt: mit Software - nehmen wir Einfluß
auf die Welt um uns und damit, vermittelt, auf uns selbst. Die Möglichkeiten
dieser Einflußnahme sind erstaunlich und erheblich. Sie sind
dennoch lediglich berechenbarer Natur. Wir ahnen, wieweit die Macht
des Berechenbaren reichen mag.
2. Aufruf einiger Kunstwerke
Wir
befinden uns also vor dem Hintergrund der semiotischen Maschine Computer.
Sie ist ein grundlegendes Moment der technischen Basis unserer Zeit.
Was will ich in diesem Aufsatz dazu sagen? Über "Einmaliges
und Beliebiges" will ich sprechen. An einer mosaikartigen Reihe
von Bildern, die keine zwingende Logik aufweist, will ich auf einige
aktuelle Aspekte aufmerksam machen. Sie weisen den Computer als Werkzeug
und Medium gegenwärtiger Transformation der Kultur aus. Diese
Transformation ist diejenige, das erwarten wir nun schon, die uns
von der Unmittelbarkeit der Dinge weg und hin zur Mittelbarkeit der
Zeichen führt. Es ist eine Transformation von Kultur, die --
dem Charakter des Zeichens gemäß -- eher Rettung des Geistes
als seinen Verlust bedeutet. Jedenfalls ist die Zeichendimension die
für den Geist typische. Manchen wird diese Bemerkung arg gegen
den Strich gehen, wenn sie nämlich den Verlust des Sinnlichen
an die Spitze ihrer Sorge stellen und darin auch den Verlust von Sinn
ansprechen.
Ich rufe, ohne sie zu zeigen, an ihren Namen einige Kunstwerke auf.
Kunstwerke sind Werke, die in die Kunstgeschichte eingegangen sind,
die also eine gewisse Reputation erworben und erhalten haben. Sie
gelten als Kunst aus keinem anderen als diesem historischen Grunde.
Er zeigt, daß Kunst wesentlich soziales, weniger individuelles
Werk ist.
Ich rufe also unter der Rubrik "Einmaliges" auf: Mona Lisa!
Das Geschrei! Les Demoiselles d'Avignon! Roxy's! Es könnten,
wie wir wissen, auch ganz andere und viele Dutzend mehr solche Werke
sein. Darauf aber kommt es hier nicht an. Jedes von ihnen steht für
eine besondere Einmaligkeit. Von jedem von ihnen gibt es aber auch
viele Reproduktionen. Die sind recht beliebig in ihren Formaten, Anlässen,
leider auch Farben. Das einmalige Werk gewinnt einen Aspekt seiner
Einmaligkeit aus der Tatsache, daß es in so vielen Abziehbildern
existiert, daß uns allen die Nennung seines Namens genügt,
um es vor uns zu sehen - genauer: um eine geistige Vorstellung vor
uns zu "sehen", die wir auf Grund gelebten Lebens mit dem
genannten Namen verbinden. Unser gelebtes Leben, all seine Berührungen
sind uns in der semiotischen Dimension zugänglich. Gebrochen,
bruchstückhaft, ungeordnet, verfremdet, geschmolzen und verschmolzen,
verfälscht und überhöht zwar, aber irgendwie zugänglich.
Das Einmalige, Herausgehobene, Herausragende zumal.
Ich rufe desweiteren unter der Rubrik "Beliebiges" auf:
Ein schwarzes Quadrat Malevitchs, ein Readymade Duchamps, eine Serigrafie
Vasarelys. Das schwarze Quadrat war ein Akt von ungeheurer Einmaligkeit
in der Kunstgeschichte. Schwarze Quadrate hat es vor 1913 gegeben
und gibt es danach auch noch. Aber wenn wir über ein beliebiges
schwarzes Quadrat heute sprechen, das soviel anders von allen anderen
schwarzen Quadraten sein mag, die es auch noch gab, so wird - haben
wir jemals etwas von ihm gehört - das russische revolutionäre
Schwarze Quadrat darin anklingen.
Die schwarzen Quadrate und Kreise und ähnliche, im Grunde nur
einmal als rudimentärste Zeichen herstellbaren Bilder mußte
Malevitch immerhin malen. Duchamp griff nur ins Warenlager und beförderte,
was dort seiner Vernutzung im täglichen Leben harrte, ins Museum,
also in die Kunstgeschichte. Gewiß, die Beliebigkeit dieses
Aktes ist, am Urinoir exerziert, so beliebig nicht. Da schwingt eine
die Kunstgeschichte beleidigende Geste mit. Ansonsten aber ist ein
solches prozellanenes Ding wie das andere und liegt der Akt des Kunstmachens
nicht im Herstellen des Dinges, sondern im bewußten Machen von
Kunstgeschichte. Kunst wird, was zu solcher erklärt wird.
Gemessen daran sind die eingängigen Farbkompositionen Vasarelys
geradezu von höchster Kunstfertigkeit. Doch: die Farbarrangements,
die da in den Möbelgeschäften der Welt geeignete Wohnambientes
schaffen sollen, sind nach codierten Anweisungen des Meisters hergestellt
worden in einem quasi-industriellen Prozeß. Die Formen und Farben
haben eine Kurzschrift im Rücken, die hinreicht, um das Werk
stofflich entstehen zu lassen. Sein Schema, sein Programm reichen
hin, um es als Farbsensation zu erzeugen. Die wird in immer gleicher
Qualität massenhaft produziert und vertrieben. So brachte das
seiner Beliebigkeit entrissene und zum einmaligen Kunstwerk gewordene
Pißbecken im Kontext der Kunst, in den es gestellt wurde, die
Massenproduktion von Dekorationsstücken hervor, deren Beliebigkeit
Programm ist.
Das kleine Mosaik von Werken der Kunst, das vor unserem geistigen
Auge schweben mag, weckt eine Reihe von Vermutungen hinsichtlich der
Einmaligkeit und Beliebigkeit, die der Kunst vielleicht ohnehin innewohnen.
Im Kontext des Computers erleben sie eine besondere Betonung. Sehen
wir weiter!
3. Harold Cohens Malmaschine
Die
ZEIT vom 2.6.1995 zeigte in einem großen Artikel mit reichhaltigem
Bild ein, wie ich meine, herausragendes Ereignis an. Sie berichtet
von einer neuen Ausstellung des englischen Malers Harold Cohen, die
dieser im Computer Museum in Boston hatte.
Oft schon seit Mitte der siebziger Jahre hat Cohen eine große
Zeichenmaschine ins Museum gestellt. Sie begann dort, von Cohens Programm
Aaron gesteuert, munter zu zeichnen. Waren das anfangs recht abstrakte,
sehr abwechslungsreiche und fantasievoll erscheinende Formen und Strichkombinationen,
so wurden später Steine daraus, anthropomorphe Figuren, dann
menschliche Gestalten inmitten üppiger tropisch anmutender Vegetation.
Programm und Zeichenmaschine brachten auf großen Flächen
ihre schwarzen Linien an, die Cohen später zu kolerieren begann,
bevor er sie an die Ausstellungswände heftete. Beim Malen bediente
er sich seiner eigenen Farbpalette: klare, gesättigte, leuchtende
Farben. Er hielt sich nur ungefähr an die maschinell gezeichneten
Formen der Umrisse, erlaubte sich im einmaligen Werk - bei dessen
maschinell getroffenen Entscheidungen immer viel Zufall mit im Spiele
war - viele beliebig erscheinende Malakte der Farbwahl und der Flächenwahl.
In einer Phase seiner künstlerischen Entwicklung in den achtziger
Jahren entschied das Programm Aaron bereits über die Farben,
die es den Flächen geben wollte. Es zeigte sie auf dem Bildschirm,
von wo Cohen sie - kam das Bild zur Ausmalung - von ihrer Lichterscheinung
in Körperfarben transformieren mußte. Wie nicht anders
zu erwarten, änderte das die farbliche Anmutung, und Cohen erlaubte
sich die eine oder andere Abweichung - er wäre nicht Mensch,
täte er das nicht.
Der Zustand ließ ihn jedoch nicht ruhen und er sann auf eine
Maschine, die auch den Farbauftrag selbst, mit einem pinselähnlichen
Gerät das Pigment aus Farbtöpfen schöpfend, bewältigen
würde. Mit Hilfe von Ingenieuren und algorithmischer Fantasie
war er Anfang 1995 soweit, daß er erstmals seit langem wieder
ausstellte: Bilder, die die programmierte Maschine im Ausstellungsraum
produzierte. Der Meister lehnt an der Wand, selbstgefällig versunken
das emsige Geschehen betrachtend.
Was sehen wir, was lernen wir? Cohen, der Maler, zwingt eine Maschine
dazu, das zu tun, was er will. Er erreicht dies, indem er einen Teil
seines Zeichnens und Malens veräußert. Genauer gesagt,
veräußert er einen Teil seines Wissens vom Zeichnen und
Malen. Einen Teil seines Denkens also, einen solchen Teil, dem er
algorithmische Form geben kann. Harold Cohen hat es auf der Welt am
weitesten darin gebracht, bestimmte Formgebungen und Farbaufträge
in einem Regelwerk zu fixieren. Diese Regeln sind so genau (einmalig)
und enthalten soviel an Offenheit (beliebig), daß der Computer
ihnen folgen kann und der Anschein entsteht, die Maschine sei kreativ.
Das nämlich, was sie erst zeichnet, dann koloriert - großflächige,
zweidimensionale, körperlos wirkende, Menschengesichter und -körper
- wirkt realistisch und frei. Als ob jemand, den es wirklich geben
mag, porträtiert würde, durchaus in künstlerisch freier
Interpretation, nicht in der entsetzlich fotonahen Bildlichkeit typischer
Computerbilder.
Cohen hat also Wissen über seine Art zu zeichnen und zu malen
in einen Satz berechenbarer Regeln zu fassen vermocht, die komplex
genug sind, die Operationen einer damit gefütterten Maschine
als Akte anthropomorpher Entscheidung und ästhetischer Gestaltung
erscheinen zu lassen. Es versteht sich, daß Zittrigkeiten, Ungenauigkeiten,
Abweichungen vom streng Geometrischen in allen denkbaren Versionen,
daß die Vermutung von Unberechenbarkeit den Schlüssel für
den visuellen Eindruck und seine Ästhetik abgibt, die hier entstehen.
Nicht die einzelne Linie oder die einzelne Farbe hat Cohen vorausgedacht.
Vorausgedacht hat er, was Klassen solcher Liniengebilde, was Schemata
solcher Farbwahlen gemeinsam haben mögen. Er hat auf einer abstrakten
Ebene die Beliebigkeit des einzelnen Frauengesichtes zum charakteristisch
Gemeinsamen (fast) aller Frauengesichter zusammengefaßt. Er
hat die Frage behandelt, welche Charakteristika eine relativ kleine
Menge von Linien besitzen müssen, damit wir das Objekt "weiblicher
Oberkörper, bekleidet", zuordnen und nicht ein anderes.
Die Veräußerung des Gedankens und solche Veräußerung
in algorithmischer Form, dies sind die Merkmale des Verhältnisses
Harold Cohens zu seiner Maschine Aaron und über deren Wirken
zu seinen (seinen?) Bildern. Yves Klein etwa hatte es sich einfacher
gemacht. Er strich, wie erinnerlich, nackte Frauenkörper mit
Farbe an und rollte diese dann über große Papierbahnen.
Ihre Farbspuren erinnern, wie sollte es anders sein, an Frauenkörper,
offensichtlich pseudo-maschinell hervorgebrachte Ikonen. Wie brutal
und sinnlich-simpel der Kleinsche Akt, wie fein und geistig-komplex
der Cohensche! Das Objekt (die Frau) wird zum Stempel ihres eigenen
Bildes gemacht bei Klein; das Objekt (die Frau) wird vom Betrachter
des Computerbildes erst erzeugt bei Cohen. Gemeinsam ist beiden jedoch
die Veräußerung eines gedanklichen Planes, den sie in Bewegung
setzen: dumpf körperlich zum einen, subtil semiotisch zum anderen
Male.
Das kunstgeschichtliche Interesse könnte sich auch daraus einen
Reim zu machen versuchen, daß zur etwa selben Zeit in einer
wissenschaftlichen Zeitschrift der Computergrafik Bilder veröffentlicht
werden, auf denen versucht wird, Impressionsten wie Caude Monet nachzuahmen
(Computer Graphics and Applications, June 1995). Hier wurde eines
der höchstentwickelten kommerziellen Malprogramme (Fractal Design
Painter) benutzt, um werkzeug-ähnlich mit einem druckempfindlichen
Stift eine Vorlage so zu reproduzieren, daß wir das Computerbild
mit seinem Original verwechseln sollen.
Beide Male, daran besteht kein Zweifel, werden geistige Tätigkeiten
des Zeichnens und Malens programmiert, also algorithmisch gefaßt.
Im Falle der nachempfundenen Impressionisten (und jeder anderen Kopie)
ist die maschinisierte geistige Tätigkeit die der Werkzeugführung.
Was naturgemäß beinhaltet, das Werkzeug selbst zum Träger
einer Batterie von Parametern zu machen, über die es zu einem
immer wieder anderen Spezialwerkzeug gemacht werden kann.
Im Falle der Regelsätze für Cohensches Zeichnen und Malen
ist, neben der Werkzeugführung, die Entscheidung der Form- und
Farbgestaltung maschinisiert. Der Künstler tritt einen weiteren
Schritt zurück von seinem Werk. Dieses kommt für ihn fast
ebenso überraschend wie für uns. Zwischem ihm und dem Werk
befinden sich Schichten semiotischer Watte.
4. Die Malmaschine der Fraktale
Ich
muß, aus Bremen kommend, ein Wort zu einer anderen Sorte von
Malmaschinen verlieren. Fraktale Mengen und Bilder, die sie veranschaulichen,
haben ihren Sturmlauf aus den Laboratorien einer neuen Art von Mathematik
durch die populären wissenschaftlichen Zeitschriften bis hinein
in die Schule vollzogen. Manche finden die so entstehenden "selbstähnlichen"
Gebilde und Bilder interessant, erleuchtend, schön; andere, gerade
auch in der Kunst, vielleicht auch interessant, selten schön,
gerade in der Selbstähnlichkeit auch langweilig.
Was ist interessant an Fraktalen? Ein mathematischer Prozeß,
der ausgiebige numerische Rechnung verlangt, wird gestartet und nach
einiger Zeit abgebrochen. Sein Zustand wird so interpretiert, daß
er den Farbwert eines kleinen Fleckes des Bildes bestimmt. Der Nachbarfleck
wird dann ausgewählt, der Prozeß erneut begonnen - und
so weiter, bis die Farbwerte aller Bildflecke bestimmt sind.
Der hinter dem Bild stehende mathematische Prozeß verleiht dem
Bild seine Besonderheit, seine Struktur, gar Gestalt, seine Einmaligkeit.
Vieles bleibt beliebig - die Wahl und Zuordnung der Farbpalette, die
Abbruchsbestimmung beim Prozeß, die Körnigkeit. Denken
wir als Beispiel an das allgegenwärtige Apfelmännchen, jene
Ikone der fraktalen Welt. Man hat diese Visualisierung eines mathematischen
Objektes visuell weiter aufgemöbelt und in eine gebirgsähnliche
Schneelandschaft gesetzt. Ein Planet schwebt am Himmel.
Der fraktale Künstler kann sich ähnlich wie Cohen zurücklehnen.
Er stößt die Maschine an und sie rackert. Der Unterschied
liegt in der Steuerung. Bei Cohen: algorithmisierte Regel des Zeichnens
und Malens menschlicher Figuren; beim Fraktal: ein mathematischer
Approximationsprozeß. Gerechnet wird beide Male. Aber was gerechnet
wird, ist unterschiedlicher Natur. Im mathematischen Fall wird die
Tatsache ausgenutzt, daß Ergebnisse von Rechnungen in Farben
umgesetzt werden können. Im regelbasierten Fall wird versucht,
Entscheidungsprozesse zu algorithmisieren, die ästhetischem Tun
nahestehen. Verbildlichte Mathematik im einen Fall, Bilder, die uns
Mathematik sehen lassen. Mathematisierte Malprozesse im anderen Fall,
Bilder, die Mathematik benötigen, aber nicht zeigen.
5. Serie und Variation
Es
ist ganz selbstverständlich, daß die maschinisierte Produktion
von Bildern in der Variation und damit in der Serie ihre wichtige
Anwendung findet. Das war vom Beginn der sogenannten Computerkunst
an der Fall. Man datiert diesen Beginn auf das Jahr 1965 und hebt
damit folgendes Ereignis heraus. In diesem Jahr fanden die ersten
drei Ausstellungen von digitalen Bildern statt, die ausdrücklich
einen Kunstanspruch erhoben: im Februar in der Studiengalerie der
TH (heute: Universität) Stuttgart (Georg Nees), im April in der
Howard Wise Gallery in New York (A. Michael Noll, Bela Julesz), im
November in der Galerie Niedlich in Stuttgart (Frieder Nake, Georg
Nees).
Ein Experiment wurde damals bekannt, das sowohl das Prinzip Serie
wie die Nachahmung eines Stiles oder Genres eines Künstlers exemplarisch
vorführte. Michael Noll hatte Bilder Mondrians ("Meer und
Dünen") auf gewisse geometrische Merkmale hin analysiert
und das Gefundene soweit vereinfacht, daß er mit damaligen technischen
Mitteln relativ einfach Bilder in dieser Façon erzeugen konnte.
Das Zeichenrepertoire war einfach genug: relativ kurze waagerechte
und senkrechte breite Striche, deren Längen nicht allzu sehr
variierten; das ganze Zeichenarrangement ungefähr kreisförmig
mit einem abgeflachten Teil am oberen Rand; ein etwa parabelförmiges
inneres Gebiet, in dem die Längen der Striche kürzer waren
als außerhalb desselben.
Noll schrieb ein Programm, das diesen globalen Bedingungen genügte
und das alle Entscheidungen über lokale Zeichensetzungen von
Pseudozufallszahlen, also von simulierten Wahrscheinlichkeiten abhängig
machte. Indem er nun die Wahrscheinlichkeitsverteilungen vorgab und
Bilderfolgen errechnen und zeichnen ließ, produzierte er Serien
von Bildern im Stile der betrachteten von Mondrian.
Berühmt wurde dieses Experiment vor allem deshalb, weil kolportiert
wurde, in einer Befragung hätten die Versuchspersonen das Mondrian-Bild
fälschlich dem Computer zugeordnet (weil langweiliger); konsequent,
daß sie am Computer-Bild größeren Gefallen gefunden
hatten. Man muß dazu sagen., daß dieses Experiment unter
wenigen Kollegen Nolls bei den Bell Laboratories stattgefunden hatte,
wo er damals arbeitete. Es läßt sich also kein Anspruch
auf allgemeinere Gültigkeit daraus ableiten.
6. Abstrakter Expressionismus und Informationsästhetik
Karl
Otto Götz gehört zu den erfolgreichen deutschen abstrakten
Expressionisten (Informel). Er hatte seine Erfolge in der Zeit nach
dem Kriege. Vor kurzem gab es aus Anlaß seines achtzigsten Geburtstages
in Dresden eine große Retrospektive [Götz 94]. In seinem
Werk finden wir neben einer riesigen Menge von Bildern stark expressiver
Art eine längere Beschäftigung mit Anwendungen der Informationstheorie
auf die visuelle Dimension.
In den sechziger Jahren, in denen Götz diese Arbeiten durchführte,
versuchten in Deutschland Max Bense und etliche seiner Schüler,
mit dem nachrichtentechnischen Begriff der Information ästhetische
Prozesse zu erklären [Bense 69, Nake 74]. In der Bildwelt war
der Gedanke naheliegend, die Bildfläche in ein regelmäßiges
Raster von kleinen (quadratischen) Zellen aufzulösen. Jede solche
Zelle wurde zusammen mit ihrem Farbwert eines der elementaren Zeichen,
über deren Menge das Bild realisiert worden war. Durch allerlei
Rechnerei konnte man hoffen, gewissen statistischen Gesetzmäßigkeiten
auf die Spur zu kommen und in ihnen einen rationalen Schlüssel
zum Bildverstehen sowie - so wurde kühn behauptet - zum Schaffen
neuer Bilder nach vorgegebenen Kriterien zu finden.
Dieser Glaube ist längst zerstoben und selbst Max Bense hat sich
leise von ihm verabschiedet gehabt und die viel wichtigere und bedeutsamere
Seite solcher Betrachtung von Kunstwerken in den Vordergrund gerückt:
die semiotische Betrachtung nämlich [Bense 79].
Das ist hier jedoch nicht unser Gesichtspunkt. Uns ist wichtig, daß
K.O. Götz in seiner Brust zwei Seelen verband: den aus dem schwungvoll
bewegten Körper malenden Künstler und den das Bild sezierenden
Forscher. Einerseits steht er für die unbedingte Leiblichkeit
des Malens. Das Subjekt begibt sich unmittelbar in seine Bilder hinein.
Die Bewegung des Körpers des Malers wird zur Quelle des Bildausdrucks.
Andererseits steht er für die unerbittlich distanzierte Betrachtung
des Gemalten. Wahrnehmungspsychologische Überlegungen führten
ihn zum mathematischen Kombinieren von Rasterarrangements auf der
Suche nach Minimalbedingungen von Gestalten. Ganz anders im Zugang
als Harold Cohen, aber durchaus ähnlich in der Fragerichtung.
Götz veranstaltete ein Experiment, bei dem er eine Gruppe seiner
Studierenden dazu benutzte, ein großformatiges Rasterbild zu
produzieren (ohne Computer). Jede Person hatte ein Teilbild mit einem
gewissen Prozentsatz schwarzer Rasterzellen zu füllen. Welche
davon schwarz werden, welche weiß bleiben sollten, entschieden
die Studierenden zufällig: durch Aufschlagen von Telefonnummern.
In diesem Experiment führte Götz mustergültig vor,
was erst später und außerhalb der Kunst zur Gewißheit
wurde, daß wir mit Maschinen nämlich nur das tun können,
was wir selbst schon maschinenähnlich zu tun gewohnt sind. Maschinen
werden also nicht menschenähnlich tätig, sondern Menschen
bereiten maschinenähnlich Tätigkeiten vor.
Körperliche Nähe und geistige Distanz zum Bild, stoffliche
Unmittelbarkeit und semiotische Mittelbarkeit, Einmaligkeit des geschehenden
Aktes und Beliebigkeit der vorbereitenden Auswahl - dies sind Momente
von Kunst, die sich in der Person des K.O. Götz vereint zeigen.
7. Maschinenhaftes Malen ohne Maschine
Jackson
Pollocks "Number One" von 1948 ist eine seiner drip paintings.
Die Leinwand liegt großflächig auf dem Boden, wie bei K.O.
Götz. Farbe hinterläßt Spuren auf ihr, bewegte Spuren.
Wenn Götz aber einen Besen, einen breiten Quast an langem Stiel,
mit dem ganzen Körper schwingend über die Malfläche
bewegt und schließlich die Fläche in grandioser Geste berührt
und bemalt, versetzt Pollock simple Geräte in Schwingung, deren
Bewegung die Farbspuren erzeugen. Er läßt z.B. Dosen an
langen Fäden über der Malfläche schwingen. Sie enthalten
Farbe. Da ihr Boden durchlöchert ist, tröpfelt die Farbe
heraus. Schichten von Liniengeflechten entstehen so, automatische
Malerei. Der Prozeß der Bildentstehung steht im Vordergrund
der Tätigkeit von Pollock. Ihn plant er, setzt er in Gang und
hält er aufrecht. Nicht das Bild in seinen Einzelheiten ist Gegenstand
seiner Vorhersicht, wenngleich Pollock als Beobachter des Geschehens
und Meister der Zeremonie viele Eingriffsmöglichkeiten behält.
Der künstliche Malvorgang, den Pollock plant und "berechnet"
ist in vieler Hinsicht unberechenbar. Eine Maschine könnte zu
ähnlichem programmiert werden. Das Ausgabegerät spielt eine
wesentliche Rolle.
Vom fertigen Bild her betrachtet sehen wir einen Malvorgang, der farbige
Linien erzeugt. Diese Linien bleiben zum Teil auch im fertigen Bild
sichtbar. Insgesamt aber schließen sie sich zu Flächen
zusammen. Der Vorgang baut physikalisch auf linienhaften Zeichen auf,
die er stofflich herstellt. In unserer Wahrnehmung aber verlieren
die meisten dieser Zeichen ihre Identität und rücken als
bemalte Flächen in den Vordergrund. Die physikalisch hergestellte
Linie verschwindet hinter der wahrgenommenen Fläche.
In gewissem Sinne werden Zeichnen und Malen bei Pollock eins. Schuf
die perspektivische Malerei der Renaissance mit ihrer geometrisch
exakten Konstruktion in gewissem Sinne erst die Linie als Umrißlinie,
die eine Fläche umschloß, die es auszumalen galt, so füllen
die Pollockschen automatischen Linien von selbst die Fläche.
Die Fläche ist das Schicksal der Linie geworden.
Pollock geht - am Ende des Zweiten Weltkrieges, als Europa in Scherben
liegt - einen radikalen Schritt von der Repräsentation einer
objektiven Welt zur subjektiven Konstruktion eines Bildes. Sein Bild
gewinnt Autonomie gegenüber der Welt. Es stellt nichts dar außer
sich selbst. Der "daneben gegangene" Strich entwertet das
Bild nicht mehr, da es ihn nicht mehr gibt. Kein abzubildender Gegenstand
"da draußen" hat Herrschaft über die Linie im
Bild, da sie ihr Eigenleben führt und nur so und das ist, was
sie ist.
Das konkrete Bild vereint darstellendes Mittel (Repräsentamen)
mit dargestelltem Gegenstand (Objekt). Dadurch steht das Bild nicht
mehr neben der Welt, sondern ist Welt.
Der Maler tritt ganz aus seinem Bild heraus. Sind die Bilder des Informel
von Götz ebenso konkret wie die drip paintings von Pollock, so
ist Götz als malender Leib noch ganz in seinen Bildern anwesend,
Pollock dagegen hat sich entfernt. Einen simplen produktiven Mechanismus
hat er statt seiner, mit einem Malwerkzeug bewehrten Hand und seines
Armes in die Szene eingeführt. Seine Hand stößt nur
den Farbtopf an. Die Anfangsrichtung und Geschwindigkeit, die Pollock
der Schwingung gibt, die Viskosität der Farbe, die Zahl der Löcher
im Dosenboden, der Ort der Aufhängung der Dose - allerhand mechanische
Parameter der Linienproduktion kontrolliert er. Kontrolle über
den Prozeß der Bildproduktion wird bewußt. Ist sie hier
noch einfach, so hängt die Art der abverlangten Kontrolle eng
mit dem malerischen Repertoire, mit den Zeichen zusammen, die da automatisch
geschaffen werden sollen.
Über die Kontrolle der Bildherstellung also tritt der Maler wieder
- aus der Ferne, in die er sich begeben hat - in sein Bild ein. Das
Bild ist genauso es selbst bei Götz wie bei Pollock. Aber Pollock
entfernt sich, wo Götz begierig die Farbe aus der Werkzeugverlängerung
seines Leibes heraus aufträgt. Pollock ist wie Yves Klein. Aber
er verzichtet auf die stärkste aller Semantiken, auf den nackten
Frauenkörper.
Harold Cohen lehnt wie Pollock als Beobachter neben seiner malenden
Maschine, bereit zum helfenden Sprung, wenn etwas passiert. Was hier
passieren kann, ist kein Verzeichnen im Bild selbst, sondern ein Versagen
des Zeichnens als solches. Geradezu possierlich mutet uns dieser individualistische
Künstler angesichts des von ihm in Gang gesetzten Malprozesses
an, wenn wir eineinhalb Jahrhunderte zurückblicken. Dort entdecken
wir auch Menschen, die Maschinen beobachten, ganz Auge und Ohr für
deren gleichmäßig getakteten Lauf und Gang. Es gibt einen
kleinen Unterschied: Der Textilarbeiter in einem Maschinensaal in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den wir hier meinen,
hat eine Vielzahl von Maschinen zu überwachen. Das Produkt seiner
maschinell vervielfachten Arbeit gehört auch nicht ihm, sondern
dem Fabrikanten, der ihn, den Arbeiter, anwendet. Von solchem ökonomischen
Feinsinn aber abgesehen, hat die Maschine die Malerei eingeholt. Sie
hat dies auf der Ebene der Kontrolle über den Vorgang getan.
Marx beschreibt sehr eingängig im berühmten 13. Kapitel
des ersten Bandes vom Kapital, wie die stolzen Textilarbeiter auf
Kontrolltätigkeit reduziert wurden. Wir lernen daraus, daß
auf der Höhe der mechanischen Produktion der Kern der neuen Produktionsweise
aufblitzt: die Kontrolle des Vorganges! Das heißt aber nichts
anderes als: bewußt werden Zeichen über die Produktion
zum Gegenstand der Arbeit gemacht.
Arbeit mit Computern ist In-Gang-Setzen geronnener, nämlich maschinisierter
Kopfarbeit. Dabei ist gleichgültig, ob es um Textilfabrikation
geht oder um Bildgekleckse. Pollock zeigt, wie es geht. Er und, nebenbei
gesagt, viele andere auch, wie z.B. die Pointillisten oder Dürer
mit seinen perspektivischen Zeichengeräten - Pollock also ist
unmittelbarer Vorbereiter der "künstlichen Kunst",
der Kunst also, von deren Produkt der Künstler sich zugunsten
einer Maschine entfernt hat. Künstliche Kunst ist Kunst, die
im Kontrollieren des Prozesses des Bildes liegt, nicht im Herstellen
des Bildes selbst, Künstliche Kunst ist insofern ein notwendiger
Gipfel moderner Kunst, als die Ökonomie der Moderne die Ökonomie
der - sagen wir es getrost einmal wieder - kapitalistischen Produktion,
ein unbedingtes Gebot zum Automaten, in sich trägt [Sohn-Rethel
89].
8. Farbige Quadrate
Eine
pädagogische Wendung nimmt die zu sich selbst gekommene Malerei
der konkreten Kunst in den "Hommage to the square" genannten
Bildern von Josef Albers. Für sie ist er berühmt geworden.
Emsig hat er sie, einmal entdeckt, bis an sein Lebensende gemalt.
Die immer gleiche exzentrische Schachtelung von drei (manchmal vier)
kleiner werdenden Quadraten in stets neuer Farbgebung. Ein Malevitch
im Malevitch, um an russisches Spielzeug zu erinnern.
Pädagogisch sind diese Albersschen Bilder insofern, als jedes
von ihnen einen Farbklang vorführt. Die extreme Reduktion der
Form, die in der ständigen Wiederholung einer Leugnung von Form
gleichkommt, mußte Albers geradezu eingehen, um ganz die Dimension
der Farbe zu gewinnen. Beim Auftrag der Farben im Inneren seiner minimalen
Form kommt es ihm auf absolute Gleichmäßigkeit an. Das
auftragende Gerät soll keinerlei Spur hinterlassen. Nur die Farbe
soll erscheinen und im Klang mit ihren Nachbarn wirken.
Hier hat also ein Künstler in der radikalen Minimalisierung der
Form (nur Malevitch ging weiter) der Beliebigkeit abgeschworen. Die
immer wiederholte gleiche Form schafft die Einmaligkeit Albersscher
Malerei. Niemand kann jemals wieder Quadrate schachteln, wenn er in
die Kunstgeschichte eingehen will. Die Wahl der Farbe öffnet
aber die Beliebigkeit. Gezwungen, die einmal gewählte Form zu
färben, besteht der Zwang, diese Farben beliebig setzen zu können.
In der dann doch überzeugenden Wahl liegt das pädagogische
Werk, dem auch die Kunstgeschichte Tribut zollt.
Ein einfaches kombinatorisches Schema durchlebt Josef Albers' Werk.
Da die Formen nun mal fixiert, noch dazu computergerecht sind, müssen
lediglich die drei oder vier Farben gewählt werden, die es aufzutragen
gilt. Das einfachste Programm, das man sich denken kann. Man kann
den ganzen Albers, ins Unermeßliche potenziert, innerhalb des
Programms einfangen und im Sekundentakt neue Albers' auf den Bildschirm
werfen. Wählen wir die Farben kombinatorisch systematisch, ist
ein Bild anders als das nächste. Der arme Albers erscheint einem
angesichts seines Programms als ein armseliges Schema für den
Anfangsunterricht in Informatik. Die Werke, die er tatsächlich
gemalt hat, können in der Systematik durch eine Codenummer ersetzt
werden. Das ist alles, was bleibt.
Kunst erscheint uns hier als Schema, als Übung. Vom Kontrollprozeß
her betrachtet ist die "Hommage to the square"-Serie vielleicht
das einfachste Beispiel der Kunstgeschichte, die vollständig
und mit tödlicher Sicherheit aus einem kombinatorischen Programm
resultiert. Bei ° Farben und 4 Quadraten gibt es ° 4
Bilder, die bei ° = 16 schnell erledigt sind (65 536 Stück),
bei ° = 16 Mio. allerdings etwas länger brauchen würden
(ca. 6.5 x 102° - das dauert ewig, nämlich 2 x 102°
Jahre, falls jede Sekunde ein Bild gezeigt wird).
Die Kunst an den Albersschen Quadraten kann also nicht das Schema
sein. Sie muß in seiner speziellen Wahl der Farben liegen. Ansonsten
aber ist diese pädagogische Übung "Kunst" nur
dadurch, daß die Kunstgeschichte diese Bilder in die Museen
hängt und in die Kataloge aufnimmt. Das Prädikat Kunst ist
ein soziales. Der soziale Prozeß der Rezeption macht ein Werk
zum Kunstwerk, nicht der Schaffensprozeß des Künstlers.
9. Die Widerständigkeit im Material der Kunst
Kunst
kommt von Können, sagt man so. Bekanntlich hat der Volksmund
stets ein wenig recht. Was es zu können gilt, wenn jemand Kunst
machen will, ist: ein Material zu behandeln und zu bearbeiten, daß
ein Zustand hervorgerufen wird, daß eine Form entsteht, die
überzeugt. Dabei werden Werkzeuge, Geräte, Verfahren angewandt,
um das Material dorthin zu bringen, wohin es vielleicht nicht will.
Das Material "will" naturgemäß gar nichts. Metaphorisch
aber können wir mit seinem Willen eine Eigenschaft benennen,
die es seiner künstlergewollten Verformung entgegengesetzt: seinen
Widerstand. Jedes Material befindet sich, als Material, in einer Form,
wenn der Künstler es ergreift. Er aber ergreift es zu keinem
anderen Zwecke als zu dessen Verformung. Er schickt sich an, das Material
in eine Form zu überführen, die genau der Formidee, dem
formenden Willen des Künstlers entspricht. Der ist auf Schönheit
aus. Das Material aber will erst mal so bleiben, wie es ist.
Mir will scheinen, daß die Kunst am künstlerischen Prozeß
in einem gehörigen Maße darin bestünde, daß
es dem Künstler gelingt, die Widerständigkeit des Materials
zu überwinden und so dem Material eine Form zu geben, die der
Natur des Materials widerspricht. Marmorblöcken ist es nicht
naturgemäß, wie Laokoon oder Venus auszusehen. Leinwand
und Ölfarben ist es nicht naturgegeben, sich als "Mann mit
dem Helm" oder "Nachtwache" zu verteilen und zu verbinden.
Wenn Kunst es mit solchem Überwinden von Widerstand zu tun hat,
wo ist der Widerstand dann bei der programmierten Kunst? Ich habe
eingangs eine Bemerkung zu Harold Cohen und zu seinem Programm gemacht.
Wenn Cohen vielleicht auch nicht jede Einzelheit seines Regelsystems
selbst programmiert hat, so weiß er doch, daß sie einem
"interpretierenden" Programm zugeführt werden können.
Man bedient sich dabei gern der Programmiersprache Lisp.
Cohen muß für seine Art ästhetischer Produktion die
gewünschten Regeln explizit beschreiben. Er muß sie veräußern,
muß ein implizit vorhandenes Wissen oder Handeln in äußere,
formalsprachliche Form bringen. Soll der Computer mit dieser beschreibenden
Form etwas anfangen können, so muß Cohen sich gewissen
Konventionen fügen. Der Künstler als Programmierer sucht
die Widerständigkeit, die ihm stofflich ja abhanden gekommen
ist. Sehen wir erst noch bei einem anderen Künstler vorbei, der
sogar noch länger als Harold Cohen den Computer benutzt.
Manfred Mohr hat schon 1970 algorithmische Fingerübungen angestellt.
In seinen Pseudoschriften hat er die lineare Struktur des Schreibens
von links nach rechts und von oben nach unten ausgenutzt, um Textur
zu Rasterflächen werden zu lassen. Bald schon findet er ein Thema,
das er seitdem in unermüdlich neuen Varianten durchstreift: den
Hyperwürfel. Es kommt in diesem Aufsatz auf keine mathematischen
Details an. Deswegen genügt ein Hinweis, um das Thema anklingen
zu lassen, aus dem Manfred Mohr seit Mitte der siebziger Jahre Zeichen
schafft. Das Thema ist der Hyperwürfel.
Ein Hyperwürfel ist ein Würfel im vierdimensionalen Raum.
Das ist ein Gebilde, das in vier Dimensionen dem entspricht, was wir
aus drei Dimensionen ("Würfel"), zwei Dimensionen ("Quadrat")
und einer Dimension ("Strecke") schon kennen. Nur um eine
Andeutung zu machen: Ganz wie der uns vertraute Würfel begrenzende
Seitenflächen besitzt, die Quadrate sind, so besitzt der Hyperwürfel
Begrenzungsgebilde, die Würfel sind (es sind acht Stück).
Manfred Mohr läßt nun, metaphorisch gesprochen, Bewegungen
im Hyperwürfel ausführen: Wege entlang der vielen dort vorhandenen
Diagonalen zum Beispiel. Er wirft Blicke auf den Hyperwürfel,
schneidet ihn, läßt ihn rotieren. Das jeweils entstehende
Gebilde projiziert er in den uns vorstellbaren dreidimensionalen Raum.
Von dort muß es noch einmal auf die flache Bildebene projiziert
werden. Es entstehen sehr charakteristische Zeichen, spröde Balkengebilde
in Schwarz und Weiß (gelegentlich tritt ein vornehmes Grau im
Hintergrund in Erscheinung).
Manfred Mohr hat mit seinem so sehr unsinnlich erscheinenden Thema
einen Zugang zu einer Zeichenwelt gefunden, die ihm schier unerschöpfliche
Quelle seiner eigenen Handschrift geworden ist. Man mag seine komplexen
Zeichen nicht eingängig finden - dahingestellt. Was sie jedoch
in jedem Falle auszeichnet, ist ihre Unverwechselbarkeit. Sie sind
klarer Ausdruck eines gestalterischen Willens, der sich mit Hilfe
des programmierten Computers Bahn sucht und bricht.
Die großen, fast immer in Serie kommenden Bilder Mohrs tragen
die Berechnung durch den Computer als wichtigsten Moment ihrer Existenz
in sich. Sie sind aber in keiner Weise als Bilder aus dem Computer
zu erkennen. Sie drücken auf stets neue Weise eine verborgene
algorithmische Struktur aus, die hinter zufällig erscheinender
Zeichenhaftigkeit verschwindet. Die Zeichen der Mohrschen Bilder (mit
Namen wie P197-H oder P370-P) stehen für sich selbst, aber auch
für anderes, für jene angedeuteten vierdimensionalen Verhältnisse.
Dieses andere ist weitgehend unbekannt, ungesehen, unsichtbar. Mit
Hilfe des Programmes macht Mohr Aspekte jener mathematischen Realität
sichtbar. Die Zufälligkeit und Beliebigkeit jedes einzelnen seiner
Zeichen wird in der algorithmischen Einmaligkeit zusammengehalten.
Der Künstler als Programmierer findet ein widerständiges
Material. Dieses ist von vornherein semiotischer Art. Seine Widerständigkeit
liegt folglich im Geistigen. Berechnungen gilt es zu organisieren,
die zu Bildereignissen werden. Die Bewunderung für den Künstler,
die wir aus seinem Bild heraus stets aufbringen wollen, findet ihren
Anlaß in der Distanz, die er zum eigenen Werk eingeht und aushält.
Deutlich ist die künstliche Kunst, die sich des Computers bedient,
eine postmoderne Kunst, also eine Kunst, die zwar zu den Materialien
gelangt, aber nicht von ihnen selbst, sondern von ihren semiotischen
Spuren ausgeht.
10. Künstliche Kunst
Erinnert
sei abschließend an die frechen, lustigen, hintergründigen
Hopser von Dada: an das Prinzip Collage also. Können wir, mit
einer anderen solchen Vereinfachung, die Entstehung eines Kunstwerkes
als zweiphasig betrachten - nämlich als individuelles Herstellen
des Werkes durch den Künstler und als soziale Selektion des Werkes
zum Kunstwerk durch die Kunstwelt - und können wir mit der Selektion
des Materials und seiner Komposition zum Werk die Herstellung auch
wieder zweiphasig sehen, so liegt es nahe, bei Dada eine gewisse Vorliebe
für die Phase der Selektion des Materials auszumachen. Materialien,
die für ganz andere Zwecke als für künstlerische geschaffen
wurden und die ihren eigentlichen Zweck vielleicht auch schon erfüllt
haben, die in ihrer Zweckhaftigkeit verbraucht sind, werden aufgesammelt
und nur neu arrangiert. Verbrauchtes Abfall-Material erweist sich
als gut genug für die ästhetische Komposition des Werkes
bzw. die damit oft beabsichtigte künstlerische Gebärde als
Provokation der Kunstgeschichte.
In der Aufnahme unkünstlerischer Materialien reagieren die Dadaisten
auf ihre Zeit und fordern die Kultur heraus. Sie machen damit gleichzeitig
alle Materialien zu künstlerischen.
Mitte der sechziger Jahre wurde die Herausforderung der Kultur durch
den Computer absehbar. Vom Material wurde ganz abgesehen. In revolutionärer
Geste wurde der Kunst ihr algorithmisch gemachtes Schema entgegengehalten.
Wenn man Kunst berechnen konnte, was blieb dann dem Künstler,
lautete die Provokation von 1965 [vgl. zur Geschichte etwa Franke
85, Steller 92, zur Systematik Nees 95].
Leider, möchte ich rückblickend sagen, geschah dies mit
zuviel Ernst. Ironie schien es schwer zu haben. Ein Schuß Dadaismus
hätte gut getan. Max Benses kluger Begriff von der künstlichen
Kunst war letztlich defensiv.
In ihrem typischen Akt erklärten Dadaisten immer wieder die Beliebigkeit
des alltäglichen Tuns zur Einmaligkeit der Kunst. Sie machten
augenzwinkernd den Ulk zum scheinbaren Ernst. Dieses Augenzwinkern
schien der künstlichen Kunst zu fehlen.
Sie hatte es damit schwer, in den sechziger Jahren ihre gewiß
bahnbrechenden Prinzipien deutlich zu machen. Das Anliegen gab es,
und mancher mutige Galerist und Ausstellungsmann - voran Wendelin
Niedlich in Stuttgart und Boris Kelemen in Zagreb, rasch aber manch
anderer - wagte sich vor, ohne großes Lob zu ernten. Das Anliegen
blieb damals doch im Technischen stecken. Künstler wie Manfred
Mohr, Vera Molnar, Zednek Sykora, Harold Cohen haben das Technische
an der Angelegenheit stets als bloßes Mittel für ihre Zwecke
begriffen.
Kunstwerke sind Zeichen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß
sie in jedem ihrer Momente anders sein könnten, als sie sind
- sie sind es aber nicht. In dieser Formulierung drückt Nietzsche
den sonderbaren Schwebezustand aus, der das Kunstwerk gleichzeitig
beliebig und einmalig sein läßt.
In den aleatorischen Übungen der sechziger Jahre betonte die
künstliche Kunst im Augenblick ihres Aufkommens bereits, daß
sie das Beliebige zum Prinzip erheben kann. Dada ließ grüßen.
In ihrer allmählichen Reifung setzen Künstler dem wieder
die Einmaligkeiten entgegen. In dem Maße, wie Computer dabei
zum Mittel werden, werden sie zum Medium von Kunst.
11. Literatur
[Andersen
90] Peter B. Andersen,: A theory of computer semiotics. Cambridge:
Cambridge University Press 1990
[Andersen et al. 93] Peter B. Andersen, Berit Holmqvist, Jens F. Jensen
(eds.): The computer as medium. Cambridge: Cambridge University Press
1993
[Bense 69] Max Bense: Einführung in die informationstheoretische
Ästhetik. Reinbek: Rowohlt 1969
[Bense 79] Max Bense: Die Unwahrscheinlichkeit des Ästhetischen.
Baden-Baden: agis 1979
[Coy et al. 92] W. Coy, F. Nake, J. Pflüger, A. Rolf, J. Seetzen,
D. Siefkes, R. Stransfeld (Hrsg.): Sichtweisen der Informatik. Braunschweig:
Vieweg Verlag 1992
[Franke 85] Herbert W. Franke: Computergraphik, Computerkunst. 2.
Aufl. Berlin etc.: Springer-Verlag 1985
[Götz 94] K.O. Götz, Malerei 1935-1993. Katalogbuch, Staatliche
Kunstsammlungen Dresden 1994
[Nake 74] Frieder Nake: Ästhetik als Informationsverarbeitung.
Wien, New York: Springer Verlag 1985
[Nake 93] Frieder Nake (Hrsg.): Die erträgliche Leichtigkeit
der Zeichen. Ästhetik, Semiotik, Informatik. Baden-Baden: agis
1993
[Nees 95] Georg Nees: Formel, Farbe, Form. Computerästhetik für
Medien und Design. Berlin etc.: Springer Verlag 1995
[Peirce 83] Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen.
Frankfurt: Suhrkamp 1983, 1993
[Sohn-Rethel 89] Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche
Arbeit. Rev. u. erg. Neuauflage. Weinheim: VCH 1989
[Steller 92] Erwin Steller: Computer und Kunst. Mannheim: Bibliographisches
Institut 1992