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"Aus drucktechnischen und finanziellen   Gründen ist es nicht möglich, hier Abbildungen wiederzugeben. An sie wird nur im Wort appelliert. Das verlangt der Leserin und dem Leser eine besondere Anstrengung ab. Sie können sie aber lustvoll und listig absolvieren, indem sie in ihrem Büchervorrat fahnden oder in ihrer Erinnerung kramen, vielleicht auch beides tun und so verschiedene Medialitäten miteinander konfrontieren. Wodurch wir schon fast beim Thema wären."



Frieder Nake

Einmaliges und Beliebiges

Künstliche Kunst im Strom der Zeit

Aufsatz anläßlich der Berliner Sommer-Uni '95


0. Vorbemerkung

"Mensch und Kunst im Computerzeitalter" so lautete das Motto der Berliner Sommer-Uni '95. Gibt es denn ein Computerzeitalter? Stecken wir in ihm drin, bewegen wir uns darauf zu, kommt es unausweichlich?
Das Computerzeitalter wäre das Zeitalter, das durch den Computer bestimmt wird. Sagen wir etwas vorsichtiger: das durch die Informationstechnik bestimmt wird. Wir betrachten dabei den Computer als eine Maschine, die wichtig und wesentlich für die Informationstechnik ist, die wohl auch den Kern der Informationstechnik ausmacht, mit der die Informationstechnik aber nicht schon erschöpfend erfaßt ist.

Dieser Aufsatz ist nicht der Ort, die Berechtigung der Bennennung unserer Zeit als "Computerzeitalter" anzugreifen oder zu verteidigen. Man mag mit guten Gründen die Geste in Frage stellen, mit der ein ganzes Zeitalter durch eine Klasse von Maschinen gekennzeichnet wird. Ohne die wichtige Rolle des Computers für aktuelle Umwälzungen historischer Dimension zu leugnen, mag er doch nicht unbedingt und in allen Belangen prägend sein.

Wie dem auch sei – zentrale Bedeutung hat "der Computer" auf vielen Ebenen abendländischer Kultur gewonnen. Innerhalb der relativ kurzen Zeit von fünfzig Jahren ist er zu einer häufigen Erscheinung geworden. Oft nehmen wir sie gar nicht mehr wahr, worin ich ein Indiz für des Computers kulturelle Bedeutung sehe. Kulturell wirksam wird eine Sache u.a. ja dadurch, daß wir ihr Vorhandensein und Wirken als selbstverständlich unterstellen.


1. Die semiotische Maschine

Ich stelle an den Anfang meiner Bemerkungen die Kennzeichnung des Computers als semiotische Maschine. In dieser Kennzeichnung kommt das wesentliche Merkmal des Computers zum Ausdruck. Er gehört fraglos zur Welt der Maschinen, ragt aus ihr aber heraus, weil sein Gegenstand, der Gegenstand also, den wir mit dieser Maschine bearbeiten können, nicht primär stofflicher oder energetischer Natur ist, sondern eben semiotischer Natur. Wir haben es mit Zeichenwelten zu tun, wenn wir Computer benutzen, wir setzen Zeichenprozesse maschinell um und in Gang, nicht stofflich-dingliche Prozesse. Wir bearbeiten nicht das Blech selbst im Computer, sondern ein Modell des Bleches; wir verwalten nicht die Akten selbst, sondern Daten-Abbilder der Akten; wir untersuchen nicht ein Organ des Menschen selbst, sondern ein digitales Bild davon.

Der Computer sei eine semiotische Maschine, lautet die Behauptung; er handele von Zeichen und Zeichenprozessen [vgl. Andersen 90, Coy et al. 92, Andersen et al. 93, Nake 93].

Gemeint ist damit die schlichte Tatsache, daß kein Ding oder Prozeß unmittelbar Gegenstand der Bearbeitung mit dem Computer werden kann. Immer muß das Ding oder der Prozeß erst durch ein Bild, ein Modell, eine Beschreibung - eben: ein Zeichen - ersetzt werden. Im landläufig gängigen Fall sind das die Daten, die erfaßt werden. Sie ersetzen in einem radikalen, oft sehr unangenehm wirkenden Sinne Ding und Prozeß. Wir gewinnen mit dieser Ersetzung das, was wir bei jedem Zeichenprozeß gewinnen: Vorhersagbarkeit, Simulation, Prüfung, kurz: Gestaltung. Kein Prozeß der Gestaltung beginnt ohne Zeichen. Zeichenprozesse sind vorzügliche Mittel der Gestaltung. Im Zeichen gewinnen wir jene Distanz, die notwendig ist, um planvoll gestalten zu können.

Wenn der Computer nun zwar eine semiotische Maschine ist, so ist er doch eine Maschine. Jede Maschine verlangt die Gegenstände, die mit ihr bearbeitet werden sollen, in bestimmter Form. Der Computer verlangt die Zeichen in berechenbarer Form. Er ist die Maschine zur Ausführung berechenbarer Funktionen. Dies ist seine technisch korrekte Kennzeichnung. "Computer" und "Auswertung berechenbarer Funktionen" sind geradezu synonym. Nur, was berechenbar geformt werden kann, kann auf dem Computer behandelt werden. Was auf dem Computer behandelt wird, ist insofern berechenbar.

Der Begriff der Berechenbarkeit, der hier zugrundegelegt wird, ist ein mathematisch exakter Begriff. Er geht auf die dreißiger Jahre zurück und auf Leute wie A.M. Turing, E. Post, A. Church. Seine mathematischen Einzelheiten spielen hier keine Rolle. Angedeutet sei lediglich, daß "berechenbar" ist, was sich auf wenige, einfache Grundfunktionen und wenige Regeln zurückführen läßt. Wir wissen genau zu sagen, was berechenbare Funktionen sind. Und es ist erstaunlich, was alles berechenbar ist.

Nicht alles aber ist im mathematischen Sinne berechenbar. Noch nicht einmal alle Formeln, die wir hinschreiben können, sind es. Wenn wir berechnen wollen, müssen wir unseren Gegenstand erst berechenbar machen.

Den Begriff des Zeichens verwende ich hier naiv, ohne ihn näher zu erklären. Angedeutet aber sei, daß ein Zeichen eine Relation ist, kein Ding. Genauer ist ein Zeichen eine dreistellige Relation: ein Erstes steht für ein Zweites vermittels eines Dritten. Oder, anders ausgedrückt: ein Repräsentamen steht für ein Objekt vermittels eines Interpretanten. Dies sind Begriffe aus der Semiotik von Charles S. Peirce [vgl. Peirce 83]. Repräsentamen ist das Zeichen insofern, als es zunächst ein stoffliches Substrat braucht; es steht in einer bezeichnenden Funktion zu seinem Objekt; und diese Bezeichnung gewinnt Bedeutung, ergibt einen Sinn in einem Interpretanten. Ihn stellen wir hier und jetzt und stets neu und anders her. In ihm liegt die besondere Kraft dieser Begrifflichkeit.

Ein Beispiel mag erhellen. Das rote Licht (bezeichnendes Repräsentamen) am Heck des Autos vor mir bezeichnet einen Bremsvorgang dieses Wagen (bezeichnetes Objekt) und hat für mich die Bedeutung: der wird langsamer, es ist ratsam, auch zu bremsen (Interpretant). Was ich dann tue, ist ein anderes. Vielleicht ordne ich auch einen anderen, ästhetischen Interpretanten zu, weil ich mich am Glanz dieses roten Lichtes erfreue.

Die Betrachtung des Zeichens allein als Repräsentamen ist Aufgabe der Syntaktik; Repräsentamen mit Objekt werden in der Semantik studiert; tritt der Interpretant noch hinzu, so betreiben wir Pragmatik des Zeichens. Nur in der Pragmatik haben wir das Zeichen als Ganzes. Einen ersten Reduktionsschritt nehmen wir vor, wenn wir vom Interpretanten absehen; Bedeutung ist uns dann nicht mehr verfügbar. Ein zweiter Reduktionsschritt bringt uns auf die Zeichen als bloße Zeichenkörper in der Syntaktik.

Dinge und Prozesse durchlaufen im Computer-Zeitalter - wenn sie computeresk werden sollen - drei wesentliche Transformationen: Aus den Dingen werden Zeichen (semiotische Transformation), aus den Zeichen werden bloße Zeichenkörper (syntaktische Transformation), aus den bloßen Zeichenkörpern werden berechenbare Funktionen (algorithmische Transformation). Jede dieser Transformationen erleben wir als eine Reduktion: Verlust von Sinnlichkeit, Verlust von Bedeutung, Verlust von Unvorhersehbarkeit.

Mit Computern - das heißt: mit Software - nehmen wir Einfluß auf die Welt um uns und damit, vermittelt, auf uns selbst. Die Möglichkeiten dieser Einflußnahme sind erstaunlich und erheblich. Sie sind dennoch lediglich berechenbarer Natur. Wir ahnen, wieweit die Macht des Berechenbaren reichen mag.


2. Aufruf einiger Kunstwerke

Wir befinden uns also vor dem Hintergrund der semiotischen Maschine Computer. Sie ist ein grundlegendes Moment der technischen Basis unserer Zeit. Was will ich in diesem Aufsatz dazu sagen? Über "Einmaliges und Beliebiges" will ich sprechen. An einer mosaikartigen Reihe von Bildern, die keine zwingende Logik aufweist, will ich auf einige aktuelle Aspekte aufmerksam machen. Sie weisen den Computer als Werkzeug und Medium gegenwärtiger Transformation der Kultur aus. Diese Transformation ist diejenige, das erwarten wir nun schon, die uns von der Unmittelbarkeit der Dinge weg und hin zur Mittelbarkeit der Zeichen führt. Es ist eine Transformation von Kultur, die -- dem Charakter des Zeichens gemäß -- eher Rettung des Geistes als seinen Verlust bedeutet. Jedenfalls ist die Zeichendimension die für den Geist typische. Manchen wird diese Bemerkung arg gegen den Strich gehen, wenn sie nämlich den Verlust des Sinnlichen an die Spitze ihrer Sorge stellen und darin auch den Verlust von Sinn ansprechen.

Ich rufe, ohne sie zu zeigen, an ihren Namen einige Kunstwerke auf. Kunstwerke sind Werke, die in die Kunstgeschichte eingegangen sind, die also eine gewisse Reputation erworben und erhalten haben. Sie gelten als Kunst aus keinem anderen als diesem historischen Grunde. Er zeigt, daß Kunst wesentlich soziales, weniger individuelles Werk ist.

Ich rufe also unter der Rubrik "Einmaliges" auf: Mona Lisa! Das Geschrei! Les Demoiselles d'Avignon! Roxy's! Es könnten, wie wir wissen, auch ganz andere und viele Dutzend mehr solche Werke sein. Darauf aber kommt es hier nicht an. Jedes von ihnen steht für eine besondere Einmaligkeit. Von jedem von ihnen gibt es aber auch viele Reproduktionen. Die sind recht beliebig in ihren Formaten, Anlässen, leider auch Farben. Das einmalige Werk gewinnt einen Aspekt seiner Einmaligkeit aus der Tatsache, daß es in so vielen Abziehbildern existiert, daß uns allen die Nennung seines Namens genügt, um es vor uns zu sehen - genauer: um eine geistige Vorstellung vor uns zu "sehen", die wir auf Grund gelebten Lebens mit dem genannten Namen verbinden. Unser gelebtes Leben, all seine Berührungen sind uns in der semiotischen Dimension zugänglich. Gebrochen, bruchstückhaft, ungeordnet, verfremdet, geschmolzen und verschmolzen, verfälscht und überhöht zwar, aber irgendwie zugänglich. Das Einmalige, Herausgehobene, Herausragende zumal.

Ich rufe desweiteren unter der Rubrik "Beliebiges" auf: Ein schwarzes Quadrat Malevitchs, ein Readymade Duchamps, eine Serigrafie Vasarelys. Das schwarze Quadrat war ein Akt von ungeheurer Einmaligkeit in der Kunstgeschichte. Schwarze Quadrate hat es vor 1913 gegeben und gibt es danach auch noch. Aber wenn wir über ein beliebiges schwarzes Quadrat heute sprechen, das soviel anders von allen anderen schwarzen Quadraten sein mag, die es auch noch gab, so wird - haben wir jemals etwas von ihm gehört - das russische revolutionäre Schwarze Quadrat darin anklingen.

Die schwarzen Quadrate und Kreise und ähnliche, im Grunde nur einmal als rudimentärste Zeichen herstellbaren Bilder mußte Malevitch immerhin malen. Duchamp griff nur ins Warenlager und beförderte, was dort seiner Vernutzung im täglichen Leben harrte, ins Museum, also in die Kunstgeschichte. Gewiß, die Beliebigkeit dieses Aktes ist, am Urinoir exerziert, so beliebig nicht. Da schwingt eine die Kunstgeschichte beleidigende Geste mit. Ansonsten aber ist ein solches prozellanenes Ding wie das andere und liegt der Akt des Kunstmachens nicht im Herstellen des Dinges, sondern im bewußten Machen von Kunstgeschichte. Kunst wird, was zu solcher erklärt wird.

Gemessen daran sind die eingängigen Farbkompositionen Vasarelys geradezu von höchster Kunstfertigkeit. Doch: die Farbarrangements, die da in den Möbelgeschäften der Welt geeignete Wohnambientes schaffen sollen, sind nach codierten Anweisungen des Meisters hergestellt worden in einem quasi-industriellen Prozeß. Die Formen und Farben haben eine Kurzschrift im Rücken, die hinreicht, um das Werk stofflich entstehen zu lassen. Sein Schema, sein Programm reichen hin, um es als Farbsensation zu erzeugen. Die wird in immer gleicher Qualität massenhaft produziert und vertrieben. So brachte das seiner Beliebigkeit entrissene und zum einmaligen Kunstwerk gewordene Pißbecken im Kontext der Kunst, in den es gestellt wurde, die Massenproduktion von Dekorationsstücken hervor, deren Beliebigkeit Programm ist.

Das kleine Mosaik von Werken der Kunst, das vor unserem geistigen Auge schweben mag, weckt eine Reihe von Vermutungen hinsichtlich der Einmaligkeit und Beliebigkeit, die der Kunst vielleicht ohnehin innewohnen. Im Kontext des Computers erleben sie eine besondere Betonung. Sehen wir weiter!


3. Harold Cohens Malmaschine

Die ZEIT vom 2.6.1995 zeigte in einem großen Artikel mit reichhaltigem Bild ein, wie ich meine, herausragendes Ereignis an. Sie berichtet von einer neuen Ausstellung des englischen Malers Harold Cohen, die dieser im Computer Museum in Boston hatte.

Oft schon seit Mitte der siebziger Jahre hat Cohen eine große Zeichenmaschine ins Museum gestellt. Sie begann dort, von Cohens Programm Aaron gesteuert, munter zu zeichnen. Waren das anfangs recht abstrakte, sehr abwechslungsreiche und fantasievoll erscheinende Formen und Strichkombinationen, so wurden später Steine daraus, anthropomorphe Figuren, dann menschliche Gestalten inmitten üppiger tropisch anmutender Vegetation. Programm und Zeichenmaschine brachten auf großen Flächen ihre schwarzen Linien an, die Cohen später zu kolerieren begann, bevor er sie an die Ausstellungswände heftete. Beim Malen bediente er sich seiner eigenen Farbpalette: klare, gesättigte, leuchtende Farben. Er hielt sich nur ungefähr an die maschinell gezeichneten Formen der Umrisse, erlaubte sich im einmaligen Werk - bei dessen maschinell getroffenen Entscheidungen immer viel Zufall mit im Spiele war - viele beliebig erscheinende Malakte der Farbwahl und der Flächenwahl.

In einer Phase seiner künstlerischen Entwicklung in den achtziger Jahren entschied das Programm Aaron bereits über die Farben, die es den Flächen geben wollte. Es zeigte sie auf dem Bildschirm, von wo Cohen sie - kam das Bild zur Ausmalung - von ihrer Lichterscheinung in Körperfarben transformieren mußte. Wie nicht anders zu erwarten, änderte das die farbliche Anmutung, und Cohen erlaubte sich die eine oder andere Abweichung - er wäre nicht Mensch, täte er das nicht.

Der Zustand ließ ihn jedoch nicht ruhen und er sann auf eine Maschine, die auch den Farbauftrag selbst, mit einem pinselähnlichen Gerät das Pigment aus Farbtöpfen schöpfend, bewältigen würde. Mit Hilfe von Ingenieuren und algorithmischer Fantasie war er Anfang 1995 soweit, daß er erstmals seit langem wieder ausstellte: Bilder, die die programmierte Maschine im Ausstellungsraum produzierte. Der Meister lehnt an der Wand, selbstgefällig versunken das emsige Geschehen betrachtend.

Was sehen wir, was lernen wir? Cohen, der Maler, zwingt eine Maschine dazu, das zu tun, was er will. Er erreicht dies, indem er einen Teil seines Zeichnens und Malens veräußert. Genauer gesagt, veräußert er einen Teil seines Wissens vom Zeichnen und Malen. Einen Teil seines Denkens also, einen solchen Teil, dem er algorithmische Form geben kann. Harold Cohen hat es auf der Welt am weitesten darin gebracht, bestimmte Formgebungen und Farbaufträge in einem Regelwerk zu fixieren. Diese Regeln sind so genau (einmalig) und enthalten soviel an Offenheit (beliebig), daß der Computer ihnen folgen kann und der Anschein entsteht, die Maschine sei kreativ.

Das nämlich, was sie erst zeichnet, dann koloriert - großflächige, zweidimensionale, körperlos wirkende, Menschengesichter und -körper - wirkt realistisch und frei. Als ob jemand, den es wirklich geben mag, porträtiert würde, durchaus in künstlerisch freier Interpretation, nicht in der entsetzlich fotonahen Bildlichkeit typischer Computerbilder.

Cohen hat also Wissen über seine Art zu zeichnen und zu malen in einen Satz berechenbarer Regeln zu fassen vermocht, die komplex genug sind, die Operationen einer damit gefütterten Maschine als Akte anthropomorpher Entscheidung und ästhetischer Gestaltung erscheinen zu lassen. Es versteht sich, daß Zittrigkeiten, Ungenauigkeiten, Abweichungen vom streng Geometrischen in allen denkbaren Versionen, daß die Vermutung von Unberechenbarkeit den Schlüssel für den visuellen Eindruck und seine Ästhetik abgibt, die hier entstehen. Nicht die einzelne Linie oder die einzelne Farbe hat Cohen vorausgedacht. Vorausgedacht hat er, was Klassen solcher Liniengebilde, was Schemata solcher Farbwahlen gemeinsam haben mögen. Er hat auf einer abstrakten Ebene die Beliebigkeit des einzelnen Frauengesichtes zum charakteristisch Gemeinsamen (fast) aller Frauengesichter zusammengefaßt. Er hat die Frage behandelt, welche Charakteristika eine relativ kleine Menge von Linien besitzen müssen, damit wir das Objekt "weiblicher Oberkörper, bekleidet", zuordnen und nicht ein anderes.

Die Veräußerung des Gedankens und solche Veräußerung in algorithmischer Form, dies sind die Merkmale des Verhältnisses Harold Cohens zu seiner Maschine Aaron und über deren Wirken zu seinen (seinen?) Bildern. Yves Klein etwa hatte es sich einfacher gemacht. Er strich, wie erinnerlich, nackte Frauenkörper mit Farbe an und rollte diese dann über große Papierbahnen. Ihre Farbspuren erinnern, wie sollte es anders sein, an Frauenkörper, offensichtlich pseudo-maschinell hervorgebrachte Ikonen. Wie brutal und sinnlich-simpel der Kleinsche Akt, wie fein und geistig-komplex der Cohensche! Das Objekt (die Frau) wird zum Stempel ihres eigenen Bildes gemacht bei Klein; das Objekt (die Frau) wird vom Betrachter des Computerbildes erst erzeugt bei Cohen. Gemeinsam ist beiden jedoch die Veräußerung eines gedanklichen Planes, den sie in Bewegung setzen: dumpf körperlich zum einen, subtil semiotisch zum anderen Male.

Das kunstgeschichtliche Interesse könnte sich auch daraus einen Reim zu machen versuchen, daß zur etwa selben Zeit in einer wissenschaftlichen Zeitschrift der Computergrafik Bilder veröffentlicht werden, auf denen versucht wird, Impressionsten wie Caude Monet nachzuahmen (Computer Graphics and Applications, June 1995). Hier wurde eines der höchstentwickelten kommerziellen Malprogramme (Fractal Design Painter) benutzt, um werkzeug-ähnlich mit einem druckempfindlichen Stift eine Vorlage so zu reproduzieren, daß wir das Computerbild mit seinem Original verwechseln sollen.

Beide Male, daran besteht kein Zweifel, werden geistige Tätigkeiten des Zeichnens und Malens programmiert, also algorithmisch gefaßt. Im Falle der nachempfundenen Impressionisten (und jeder anderen Kopie) ist die maschinisierte geistige Tätigkeit die der Werkzeugführung. Was naturgemäß beinhaltet, das Werkzeug selbst zum Träger einer Batterie von Parametern zu machen, über die es zu einem immer wieder anderen Spezialwerkzeug gemacht werden kann.

Im Falle der Regelsätze für Cohensches Zeichnen und Malen ist, neben der Werkzeugführung, die Entscheidung der Form- und Farbgestaltung maschinisiert. Der Künstler tritt einen weiteren Schritt zurück von seinem Werk. Dieses kommt für ihn fast ebenso überraschend wie für uns. Zwischem ihm und dem Werk befinden sich Schichten semiotischer Watte.


4. Die Malmaschine der Fraktale

Ich muß, aus Bremen kommend, ein Wort zu einer anderen Sorte von Malmaschinen verlieren. Fraktale Mengen und Bilder, die sie veranschaulichen, haben ihren Sturmlauf aus den Laboratorien einer neuen Art von Mathematik durch die populären wissenschaftlichen Zeitschriften bis hinein in die Schule vollzogen. Manche finden die so entstehenden "selbstähnlichen" Gebilde und Bilder interessant, erleuchtend, schön; andere, gerade auch in der Kunst, vielleicht auch interessant, selten schön, gerade in der Selbstähnlichkeit auch langweilig.

Was ist interessant an Fraktalen? Ein mathematischer Prozeß, der ausgiebige numerische Rechnung verlangt, wird gestartet und nach einiger Zeit abgebrochen. Sein Zustand wird so interpretiert, daß er den Farbwert eines kleinen Fleckes des Bildes bestimmt. Der Nachbarfleck wird dann ausgewählt, der Prozeß erneut begonnen - und so weiter, bis die Farbwerte aller Bildflecke bestimmt sind.

Der hinter dem Bild stehende mathematische Prozeß verleiht dem Bild seine Besonderheit, seine Struktur, gar Gestalt, seine Einmaligkeit. Vieles bleibt beliebig - die Wahl und Zuordnung der Farbpalette, die Abbruchsbestimmung beim Prozeß, die Körnigkeit. Denken wir als Beispiel an das allgegenwärtige Apfelmännchen, jene Ikone der fraktalen Welt. Man hat diese Visualisierung eines mathematischen Objektes visuell weiter aufgemöbelt und in eine gebirgsähnliche Schneelandschaft gesetzt. Ein Planet schwebt am Himmel.

Der fraktale Künstler kann sich ähnlich wie Cohen zurücklehnen. Er stößt die Maschine an und sie rackert. Der Unterschied liegt in der Steuerung. Bei Cohen: algorithmisierte Regel des Zeichnens und Malens menschlicher Figuren; beim Fraktal: ein mathematischer Approximationsprozeß. Gerechnet wird beide Male. Aber was gerechnet wird, ist unterschiedlicher Natur. Im mathematischen Fall wird die Tatsache ausgenutzt, daß Ergebnisse von Rechnungen in Farben umgesetzt werden können. Im regelbasierten Fall wird versucht, Entscheidungsprozesse zu algorithmisieren, die ästhetischem Tun nahestehen. Verbildlichte Mathematik im einen Fall, Bilder, die uns Mathematik sehen lassen. Mathematisierte Malprozesse im anderen Fall, Bilder, die Mathematik benötigen, aber nicht zeigen.


5. Serie und Variation

Es ist ganz selbstverständlich, daß die maschinisierte Produktion von Bildern in der Variation und damit in der Serie ihre wichtige Anwendung findet. Das war vom Beginn der sogenannten Computerkunst an der Fall. Man datiert diesen Beginn auf das Jahr 1965 und hebt damit folgendes Ereignis heraus. In diesem Jahr fanden die ersten drei Ausstellungen von digitalen Bildern statt, die ausdrücklich einen Kunstanspruch erhoben: im Februar in der Studiengalerie der TH (heute: Universität) Stuttgart (Georg Nees), im April in der Howard Wise Gallery in New York (A. Michael Noll, Bela Julesz), im November in der Galerie Niedlich in Stuttgart (Frieder Nake, Georg Nees).

Ein Experiment wurde damals bekannt, das sowohl das Prinzip Serie wie die Nachahmung eines Stiles oder Genres eines Künstlers exemplarisch vorführte. Michael Noll hatte Bilder Mondrians ("Meer und Dünen") auf gewisse geometrische Merkmale hin analysiert und das Gefundene soweit vereinfacht, daß er mit damaligen technischen Mitteln relativ einfach Bilder in dieser Façon erzeugen konnte. Das Zeichenrepertoire war einfach genug: relativ kurze waagerechte und senkrechte breite Striche, deren Längen nicht allzu sehr variierten; das ganze Zeichenarrangement ungefähr kreisförmig mit einem abgeflachten Teil am oberen Rand; ein etwa parabelförmiges inneres Gebiet, in dem die Längen der Striche kürzer waren als außerhalb desselben.

Noll schrieb ein Programm, das diesen globalen Bedingungen genügte und das alle Entscheidungen über lokale Zeichensetzungen von Pseudozufallszahlen, also von simulierten Wahrscheinlichkeiten abhängig machte. Indem er nun die Wahrscheinlichkeitsverteilungen vorgab und Bilderfolgen errechnen und zeichnen ließ, produzierte er Serien von Bildern im Stile der betrachteten von Mondrian.

Berühmt wurde dieses Experiment vor allem deshalb, weil kolportiert wurde, in einer Befragung hätten die Versuchspersonen das Mondrian-Bild fälschlich dem Computer zugeordnet (weil langweiliger); konsequent, daß sie am Computer-Bild größeren Gefallen gefunden hatten. Man muß dazu sagen., daß dieses Experiment unter wenigen Kollegen Nolls bei den Bell Laboratories stattgefunden hatte, wo er damals arbeitete. Es läßt sich also kein Anspruch auf allgemeinere Gültigkeit daraus ableiten.


6. Abstrakter Expressionismus und Informationsästhetik

Karl Otto Götz gehört zu den erfolgreichen deutschen abstrakten Expressionisten (Informel). Er hatte seine Erfolge in der Zeit nach dem Kriege. Vor kurzem gab es aus Anlaß seines achtzigsten Geburtstages in Dresden eine große Retrospektive [Götz 94]. In seinem Werk finden wir neben einer riesigen Menge von Bildern stark expressiver Art eine längere Beschäftigung mit Anwendungen der Informationstheorie auf die visuelle Dimension.

In den sechziger Jahren, in denen Götz diese Arbeiten durchführte, versuchten in Deutschland Max Bense und etliche seiner Schüler, mit dem nachrichtentechnischen Begriff der Information ästhetische Prozesse zu erklären [Bense 69, Nake 74]. In der Bildwelt war der Gedanke naheliegend, die Bildfläche in ein regelmäßiges Raster von kleinen (quadratischen) Zellen aufzulösen. Jede solche Zelle wurde zusammen mit ihrem Farbwert eines der elementaren Zeichen, über deren Menge das Bild realisiert worden war. Durch allerlei Rechnerei konnte man hoffen, gewissen statistischen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur zu kommen und in ihnen einen rationalen Schlüssel zum Bildverstehen sowie - so wurde kühn behauptet - zum Schaffen neuer Bilder nach vorgegebenen Kriterien zu finden.

Dieser Glaube ist längst zerstoben und selbst Max Bense hat sich leise von ihm verabschiedet gehabt und die viel wichtigere und bedeutsamere Seite solcher Betrachtung von Kunstwerken in den Vordergrund gerückt: die semiotische Betrachtung nämlich [Bense 79].

Das ist hier jedoch nicht unser Gesichtspunkt. Uns ist wichtig, daß K.O. Götz in seiner Brust zwei Seelen verband: den aus dem schwungvoll bewegten Körper malenden Künstler und den das Bild sezierenden Forscher. Einerseits steht er für die unbedingte Leiblichkeit des Malens. Das Subjekt begibt sich unmittelbar in seine Bilder hinein. Die Bewegung des Körpers des Malers wird zur Quelle des Bildausdrucks.

Andererseits steht er für die unerbittlich distanzierte Betrachtung des Gemalten. Wahrnehmungspsychologische Überlegungen führten ihn zum mathematischen Kombinieren von Rasterarrangements auf der Suche nach Minimalbedingungen von Gestalten. Ganz anders im Zugang als Harold Cohen, aber durchaus ähnlich in der Fragerichtung.

Götz veranstaltete ein Experiment, bei dem er eine Gruppe seiner Studierenden dazu benutzte, ein großformatiges Rasterbild zu produzieren (ohne Computer). Jede Person hatte ein Teilbild mit einem gewissen Prozentsatz schwarzer Rasterzellen zu füllen. Welche davon schwarz werden, welche weiß bleiben sollten, entschieden die Studierenden zufällig: durch Aufschlagen von Telefonnummern. In diesem Experiment führte Götz mustergültig vor, was erst später und außerhalb der Kunst zur Gewißheit wurde, daß wir mit Maschinen nämlich nur das tun können, was wir selbst schon maschinenähnlich zu tun gewohnt sind. Maschinen werden also nicht menschenähnlich tätig, sondern Menschen bereiten maschinenähnlich Tätigkeiten vor.

Körperliche Nähe und geistige Distanz zum Bild, stoffliche Unmittelbarkeit und semiotische Mittelbarkeit, Einmaligkeit des geschehenden Aktes und Beliebigkeit der vorbereitenden Auswahl - dies sind Momente von Kunst, die sich in der Person des K.O. Götz vereint zeigen.


7. Maschinenhaftes Malen ohne Maschine

Jackson Pollocks "Number One" von 1948 ist eine seiner drip paintings. Die Leinwand liegt großflächig auf dem Boden, wie bei K.O. Götz. Farbe hinterläßt Spuren auf ihr, bewegte Spuren. Wenn Götz aber einen Besen, einen breiten Quast an langem Stiel, mit dem ganzen Körper schwingend über die Malfläche bewegt und schließlich die Fläche in grandioser Geste berührt und bemalt, versetzt Pollock simple Geräte in Schwingung, deren Bewegung die Farbspuren erzeugen. Er läßt z.B. Dosen an langen Fäden über der Malfläche schwingen. Sie enthalten Farbe. Da ihr Boden durchlöchert ist, tröpfelt die Farbe heraus. Schichten von Liniengeflechten entstehen so, automatische Malerei. Der Prozeß der Bildentstehung steht im Vordergrund der Tätigkeit von Pollock. Ihn plant er, setzt er in Gang und hält er aufrecht. Nicht das Bild in seinen Einzelheiten ist Gegenstand seiner Vorhersicht, wenngleich Pollock als Beobachter des Geschehens und Meister der Zeremonie viele Eingriffsmöglichkeiten behält.

Der künstliche Malvorgang, den Pollock plant und "berechnet" ist in vieler Hinsicht unberechenbar. Eine Maschine könnte zu ähnlichem programmiert werden. Das Ausgabegerät spielt eine wesentliche Rolle.

Vom fertigen Bild her betrachtet sehen wir einen Malvorgang, der farbige Linien erzeugt. Diese Linien bleiben zum Teil auch im fertigen Bild sichtbar. Insgesamt aber schließen sie sich zu Flächen zusammen. Der Vorgang baut physikalisch auf linienhaften Zeichen auf, die er stofflich herstellt. In unserer Wahrnehmung aber verlieren die meisten dieser Zeichen ihre Identität und rücken als bemalte Flächen in den Vordergrund. Die physikalisch hergestellte Linie verschwindet hinter der wahrgenommenen Fläche.

In gewissem Sinne werden Zeichnen und Malen bei Pollock eins. Schuf die perspektivische Malerei der Renaissance mit ihrer geometrisch exakten Konstruktion in gewissem Sinne erst die Linie als Umrißlinie, die eine Fläche umschloß, die es auszumalen galt, so füllen die Pollockschen automatischen Linien von selbst die Fläche. Die Fläche ist das Schicksal der Linie geworden.

Pollock geht - am Ende des Zweiten Weltkrieges, als Europa in Scherben liegt - einen radikalen Schritt von der Repräsentation einer objektiven Welt zur subjektiven Konstruktion eines Bildes. Sein Bild gewinnt Autonomie gegenüber der Welt. Es stellt nichts dar außer sich selbst. Der "daneben gegangene" Strich entwertet das Bild nicht mehr, da es ihn nicht mehr gibt. Kein abzubildender Gegenstand "da draußen" hat Herrschaft über die Linie im Bild, da sie ihr Eigenleben führt und nur so und das ist, was sie ist.

Das konkrete Bild vereint darstellendes Mittel (Repräsentamen) mit dargestelltem Gegenstand (Objekt). Dadurch steht das Bild nicht mehr neben der Welt, sondern ist Welt.

Der Maler tritt ganz aus seinem Bild heraus. Sind die Bilder des Informel von Götz ebenso konkret wie die drip paintings von Pollock, so ist Götz als malender Leib noch ganz in seinen Bildern anwesend, Pollock dagegen hat sich entfernt. Einen simplen produktiven Mechanismus hat er statt seiner, mit einem Malwerkzeug bewehrten Hand und seines Armes in die Szene eingeführt. Seine Hand stößt nur den Farbtopf an. Die Anfangsrichtung und Geschwindigkeit, die Pollock der Schwingung gibt, die Viskosität der Farbe, die Zahl der Löcher im Dosenboden, der Ort der Aufhängung der Dose - allerhand mechanische Parameter der Linienproduktion kontrolliert er. Kontrolle über den Prozeß der Bildproduktion wird bewußt. Ist sie hier noch einfach, so hängt die Art der abverlangten Kontrolle eng mit dem malerischen Repertoire, mit den Zeichen zusammen, die da automatisch geschaffen werden sollen.

Über die Kontrolle der Bildherstellung also tritt der Maler wieder - aus der Ferne, in die er sich begeben hat - in sein Bild ein. Das Bild ist genauso es selbst bei Götz wie bei Pollock. Aber Pollock entfernt sich, wo Götz begierig die Farbe aus der Werkzeugverlängerung seines Leibes heraus aufträgt. Pollock ist wie Yves Klein. Aber er verzichtet auf die stärkste aller Semantiken, auf den nackten Frauenkörper.

Harold Cohen lehnt wie Pollock als Beobachter neben seiner malenden Maschine, bereit zum helfenden Sprung, wenn etwas passiert. Was hier passieren kann, ist kein Verzeichnen im Bild selbst, sondern ein Versagen des Zeichnens als solches. Geradezu possierlich mutet uns dieser individualistische Künstler angesichts des von ihm in Gang gesetzten Malprozesses an, wenn wir eineinhalb Jahrhunderte zurückblicken. Dort entdecken wir auch Menschen, die Maschinen beobachten, ganz Auge und Ohr für deren gleichmäßig getakteten Lauf und Gang. Es gibt einen kleinen Unterschied: Der Textilarbeiter in einem Maschinensaal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den wir hier meinen, hat eine Vielzahl von Maschinen zu überwachen. Das Produkt seiner maschinell vervielfachten Arbeit gehört auch nicht ihm, sondern dem Fabrikanten, der ihn, den Arbeiter, anwendet. Von solchem ökonomischen Feinsinn aber abgesehen, hat die Maschine die Malerei eingeholt. Sie hat dies auf der Ebene der Kontrolle über den Vorgang getan.

Marx beschreibt sehr eingängig im berühmten 13. Kapitel des ersten Bandes vom Kapital, wie die stolzen Textilarbeiter auf Kontrolltätigkeit reduziert wurden. Wir lernen daraus, daß auf der Höhe der mechanischen Produktion der Kern der neuen Produktionsweise aufblitzt: die Kontrolle des Vorganges! Das heißt aber nichts anderes als: bewußt werden Zeichen über die Produktion zum Gegenstand der Arbeit gemacht.

Arbeit mit Computern ist In-Gang-Setzen geronnener, nämlich maschinisierter Kopfarbeit. Dabei ist gleichgültig, ob es um Textilfabrikation geht oder um Bildgekleckse. Pollock zeigt, wie es geht. Er und, nebenbei gesagt, viele andere auch, wie z.B. die Pointillisten oder Dürer mit seinen perspektivischen Zeichengeräten - Pollock also ist unmittelbarer Vorbereiter der "künstlichen Kunst", der Kunst also, von deren Produkt der Künstler sich zugunsten einer Maschine entfernt hat. Künstliche Kunst ist Kunst, die im Kontrollieren des Prozesses des Bildes liegt, nicht im Herstellen des Bildes selbst, Künstliche Kunst ist insofern ein notwendiger Gipfel moderner Kunst, als die Ökonomie der Moderne die Ökonomie der - sagen wir es getrost einmal wieder - kapitalistischen Produktion, ein unbedingtes Gebot zum Automaten, in sich trägt [Sohn-Rethel 89].


8. Farbige Quadrate

Eine pädagogische Wendung nimmt die zu sich selbst gekommene Malerei der konkreten Kunst in den "Hommage to the square" genannten Bildern von Josef Albers. Für sie ist er berühmt geworden. Emsig hat er sie, einmal entdeckt, bis an sein Lebensende gemalt. Die immer gleiche exzentrische Schachtelung von drei (manchmal vier) kleiner werdenden Quadraten in stets neuer Farbgebung. Ein Malevitch im Malevitch, um an russisches Spielzeug zu erinnern.

Pädagogisch sind diese Albersschen Bilder insofern, als jedes von ihnen einen Farbklang vorführt. Die extreme Reduktion der Form, die in der ständigen Wiederholung einer Leugnung von Form gleichkommt, mußte Albers geradezu eingehen, um ganz die Dimension der Farbe zu gewinnen. Beim Auftrag der Farben im Inneren seiner minimalen Form kommt es ihm auf absolute Gleichmäßigkeit an. Das auftragende Gerät soll keinerlei Spur hinterlassen. Nur die Farbe soll erscheinen und im Klang mit ihren Nachbarn wirken.

Hier hat also ein Künstler in der radikalen Minimalisierung der Form (nur Malevitch ging weiter) der Beliebigkeit abgeschworen. Die immer wiederholte gleiche Form schafft die Einmaligkeit Albersscher Malerei. Niemand kann jemals wieder Quadrate schachteln, wenn er in die Kunstgeschichte eingehen will. Die Wahl der Farbe öffnet aber die Beliebigkeit. Gezwungen, die einmal gewählte Form zu färben, besteht der Zwang, diese Farben beliebig setzen zu können. In der dann doch überzeugenden Wahl liegt das pädagogische Werk, dem auch die Kunstgeschichte Tribut zollt.

Ein einfaches kombinatorisches Schema durchlebt Josef Albers' Werk. Da die Formen nun mal fixiert, noch dazu computergerecht sind, müssen lediglich die drei oder vier Farben gewählt werden, die es aufzutragen gilt. Das einfachste Programm, das man sich denken kann. Man kann den ganzen Albers, ins Unermeßliche potenziert, innerhalb des Programms einfangen und im Sekundentakt neue Albers' auf den Bildschirm werfen. Wählen wir die Farben kombinatorisch systematisch, ist ein Bild anders als das nächste. Der arme Albers erscheint einem angesichts seines Programms als ein armseliges Schema für den Anfangsunterricht in Informatik. Die Werke, die er tatsächlich gemalt hat, können in der Systematik durch eine Codenummer ersetzt werden. Das ist alles, was bleibt.

Kunst erscheint uns hier als Schema, als Übung. Vom Kontrollprozeß her betrachtet ist die "Hommage to the square"-Serie vielleicht das einfachste Beispiel der Kunstgeschichte, die vollständig und mit tödlicher Sicherheit aus einem kombinatorischen Programm resultiert. Bei ° Farben und 4 Quadraten gibt es ° 4 Bilder, die bei ° = 16 schnell erledigt sind (65 536 Stück), bei ° = 16 Mio. allerdings etwas länger brauchen würden (ca. 6.5 x 102° - das dauert ewig, nämlich 2 x 102° Jahre, falls jede Sekunde ein Bild gezeigt wird).

Die Kunst an den Albersschen Quadraten kann also nicht das Schema sein. Sie muß in seiner speziellen Wahl der Farben liegen. Ansonsten aber ist diese pädagogische Übung "Kunst" nur dadurch, daß die Kunstgeschichte diese Bilder in die Museen hängt und in die Kataloge aufnimmt. Das Prädikat Kunst ist ein soziales. Der soziale Prozeß der Rezeption macht ein Werk zum Kunstwerk, nicht der Schaffensprozeß des Künstlers.


9. Die Widerständigkeit im Material der Kunst

Kunst kommt von Können, sagt man so. Bekanntlich hat der Volksmund stets ein wenig recht. Was es zu können gilt, wenn jemand Kunst machen will, ist: ein Material zu behandeln und zu bearbeiten, daß ein Zustand hervorgerufen wird, daß eine Form entsteht, die überzeugt. Dabei werden Werkzeuge, Geräte, Verfahren angewandt, um das Material dorthin zu bringen, wohin es vielleicht nicht will.

Das Material "will" naturgemäß gar nichts. Metaphorisch aber können wir mit seinem Willen eine Eigenschaft benennen, die es seiner künstlergewollten Verformung entgegengesetzt: seinen Widerstand. Jedes Material befindet sich, als Material, in einer Form, wenn der Künstler es ergreift. Er aber ergreift es zu keinem anderen Zwecke als zu dessen Verformung. Er schickt sich an, das Material in eine Form zu überführen, die genau der Formidee, dem formenden Willen des Künstlers entspricht. Der ist auf Schönheit aus. Das Material aber will erst mal so bleiben, wie es ist.

Mir will scheinen, daß die Kunst am künstlerischen Prozeß in einem gehörigen Maße darin bestünde, daß es dem Künstler gelingt, die Widerständigkeit des Materials zu überwinden und so dem Material eine Form zu geben, die der Natur des Materials widerspricht. Marmorblöcken ist es nicht naturgemäß, wie Laokoon oder Venus auszusehen. Leinwand und Ölfarben ist es nicht naturgegeben, sich als "Mann mit dem Helm" oder "Nachtwache" zu verteilen und zu verbinden.

Wenn Kunst es mit solchem Überwinden von Widerstand zu tun hat, wo ist der Widerstand dann bei der programmierten Kunst? Ich habe eingangs eine Bemerkung zu Harold Cohen und zu seinem Programm gemacht. Wenn Cohen vielleicht auch nicht jede Einzelheit seines Regelsystems selbst programmiert hat, so weiß er doch, daß sie einem "interpretierenden" Programm zugeführt werden können. Man bedient sich dabei gern der Programmiersprache Lisp.

Cohen muß für seine Art ästhetischer Produktion die gewünschten Regeln explizit beschreiben. Er muß sie veräußern, muß ein implizit vorhandenes Wissen oder Handeln in äußere, formalsprachliche Form bringen. Soll der Computer mit dieser beschreibenden Form etwas anfangen können, so muß Cohen sich gewissen Konventionen fügen. Der Künstler als Programmierer sucht die Widerständigkeit, die ihm stofflich ja abhanden gekommen ist. Sehen wir erst noch bei einem anderen Künstler vorbei, der sogar noch länger als Harold Cohen den Computer benutzt.

Manfred Mohr hat schon 1970 algorithmische Fingerübungen angestellt. In seinen Pseudoschriften hat er die lineare Struktur des Schreibens von links nach rechts und von oben nach unten ausgenutzt, um Textur zu Rasterflächen werden zu lassen. Bald schon findet er ein Thema, das er seitdem in unermüdlich neuen Varianten durchstreift: den Hyperwürfel. Es kommt in diesem Aufsatz auf keine mathematischen Details an. Deswegen genügt ein Hinweis, um das Thema anklingen zu lassen, aus dem Manfred Mohr seit Mitte der siebziger Jahre Zeichen schafft. Das Thema ist der Hyperwürfel.

Ein Hyperwürfel ist ein Würfel im vierdimensionalen Raum. Das ist ein Gebilde, das in vier Dimensionen dem entspricht, was wir aus drei Dimensionen ("Würfel"), zwei Dimensionen ("Quadrat") und einer Dimension ("Strecke") schon kennen. Nur um eine Andeutung zu machen: Ganz wie der uns vertraute Würfel begrenzende Seitenflächen besitzt, die Quadrate sind, so besitzt der Hyperwürfel Begrenzungsgebilde, die Würfel sind (es sind acht Stück).

Manfred Mohr läßt nun, metaphorisch gesprochen, Bewegungen im Hyperwürfel ausführen: Wege entlang der vielen dort vorhandenen Diagonalen zum Beispiel. Er wirft Blicke auf den Hyperwürfel, schneidet ihn, läßt ihn rotieren. Das jeweils entstehende Gebilde projiziert er in den uns vorstellbaren dreidimensionalen Raum. Von dort muß es noch einmal auf die flache Bildebene projiziert werden. Es entstehen sehr charakteristische Zeichen, spröde Balkengebilde in Schwarz und Weiß (gelegentlich tritt ein vornehmes Grau im Hintergrund in Erscheinung).

Manfred Mohr hat mit seinem so sehr unsinnlich erscheinenden Thema einen Zugang zu einer Zeichenwelt gefunden, die ihm schier unerschöpfliche Quelle seiner eigenen Handschrift geworden ist. Man mag seine komplexen Zeichen nicht eingängig finden - dahingestellt. Was sie jedoch in jedem Falle auszeichnet, ist ihre Unverwechselbarkeit. Sie sind klarer Ausdruck eines gestalterischen Willens, der sich mit Hilfe des programmierten Computers Bahn sucht und bricht.

Die großen, fast immer in Serie kommenden Bilder Mohrs tragen die Berechnung durch den Computer als wichtigsten Moment ihrer Existenz in sich. Sie sind aber in keiner Weise als Bilder aus dem Computer zu erkennen. Sie drücken auf stets neue Weise eine verborgene algorithmische Struktur aus, die hinter zufällig erscheinender Zeichenhaftigkeit verschwindet. Die Zeichen der Mohrschen Bilder (mit Namen wie P197-H oder P370-P) stehen für sich selbst, aber auch für anderes, für jene angedeuteten vierdimensionalen Verhältnisse. Dieses andere ist weitgehend unbekannt, ungesehen, unsichtbar. Mit Hilfe des Programmes macht Mohr Aspekte jener mathematischen Realität sichtbar. Die Zufälligkeit und Beliebigkeit jedes einzelnen seiner Zeichen wird in der algorithmischen Einmaligkeit zusammengehalten.

Der Künstler als Programmierer findet ein widerständiges Material. Dieses ist von vornherein semiotischer Art. Seine Widerständigkeit liegt folglich im Geistigen. Berechnungen gilt es zu organisieren, die zu Bildereignissen werden. Die Bewunderung für den Künstler, die wir aus seinem Bild heraus stets aufbringen wollen, findet ihren Anlaß in der Distanz, die er zum eigenen Werk eingeht und aushält. Deutlich ist die künstliche Kunst, die sich des Computers bedient, eine postmoderne Kunst, also eine Kunst, die zwar zu den Materialien gelangt, aber nicht von ihnen selbst, sondern von ihren semiotischen Spuren ausgeht.


10. Künstliche Kunst

Erinnert sei abschließend an die frechen, lustigen, hintergründigen Hopser von Dada: an das Prinzip Collage also. Können wir, mit einer anderen solchen Vereinfachung, die Entstehung eines Kunstwerkes als zweiphasig betrachten - nämlich als individuelles Herstellen des Werkes durch den Künstler und als soziale Selektion des Werkes zum Kunstwerk durch die Kunstwelt - und können wir mit der Selektion des Materials und seiner Komposition zum Werk die Herstellung auch wieder zweiphasig sehen, so liegt es nahe, bei Dada eine gewisse Vorliebe für die Phase der Selektion des Materials auszumachen. Materialien, die für ganz andere Zwecke als für künstlerische geschaffen wurden und die ihren eigentlichen Zweck vielleicht auch schon erfüllt haben, die in ihrer Zweckhaftigkeit verbraucht sind, werden aufgesammelt und nur neu arrangiert. Verbrauchtes Abfall-Material erweist sich als gut genug für die ästhetische Komposition des Werkes bzw. die damit oft beabsichtigte künstlerische Gebärde als Provokation der Kunstgeschichte.

In der Aufnahme unkünstlerischer Materialien reagieren die Dadaisten auf ihre Zeit und fordern die Kultur heraus. Sie machen damit gleichzeitig alle Materialien zu künstlerischen.

Mitte der sechziger Jahre wurde die Herausforderung der Kultur durch den Computer absehbar. Vom Material wurde ganz abgesehen. In revolutionärer Geste wurde der Kunst ihr algorithmisch gemachtes Schema entgegengehalten. Wenn man Kunst berechnen konnte, was blieb dann dem Künstler, lautete die Provokation von 1965 [vgl. zur Geschichte etwa Franke 85, Steller 92, zur Systematik Nees 95].

Leider, möchte ich rückblickend sagen, geschah dies mit zuviel Ernst. Ironie schien es schwer zu haben. Ein Schuß Dadaismus hätte gut getan. Max Benses kluger Begriff von der künstlichen Kunst war letztlich defensiv.

In ihrem typischen Akt erklärten Dadaisten immer wieder die Beliebigkeit des alltäglichen Tuns zur Einmaligkeit der Kunst. Sie machten augenzwinkernd den Ulk zum scheinbaren Ernst. Dieses Augenzwinkern schien der künstlichen Kunst zu fehlen.

Sie hatte es damit schwer, in den sechziger Jahren ihre gewiß bahnbrechenden Prinzipien deutlich zu machen. Das Anliegen gab es, und mancher mutige Galerist und Ausstellungsmann - voran Wendelin Niedlich in Stuttgart und Boris Kelemen in Zagreb, rasch aber manch anderer - wagte sich vor, ohne großes Lob zu ernten. Das Anliegen blieb damals doch im Technischen stecken. Künstler wie Manfred Mohr, Vera Molnar, Zednek Sykora, Harold Cohen haben das Technische an der Angelegenheit stets als bloßes Mittel für ihre Zwecke begriffen.

Kunstwerke sind Zeichen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie in jedem ihrer Momente anders sein könnten, als sie sind - sie sind es aber nicht. In dieser Formulierung drückt Nietzsche den sonderbaren Schwebezustand aus, der das Kunstwerk gleichzeitig beliebig und einmalig sein läßt.

In den aleatorischen Übungen der sechziger Jahre betonte die künstliche Kunst im Augenblick ihres Aufkommens bereits, daß sie das Beliebige zum Prinzip erheben kann. Dada ließ grüßen. In ihrer allmählichen Reifung setzen Künstler dem wieder die Einmaligkeiten entgegen. In dem Maße, wie Computer dabei zum Mittel werden, werden sie zum Medium von Kunst.


11. Literatur

[Andersen 90] Peter B. Andersen,: A theory of computer semiotics. Cambridge: Cambridge University Press 1990

[Andersen et al. 93] Peter B. Andersen, Berit Holmqvist, Jens F. Jensen (eds.): The computer as medium. Cambridge: Cambridge University Press 1993

[Bense 69] Max Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Reinbek: Rowohlt 1969

[Bense 79] Max Bense: Die Unwahrscheinlichkeit des Ästhetischen. Baden-Baden: agis 1979

[Coy et al. 92] W. Coy, F. Nake, J. Pflüger, A. Rolf, J. Seetzen, D. Siefkes, R. Stransfeld (Hrsg.): Sichtweisen der Informatik. Braunschweig: Vieweg Verlag 1992

[Franke 85] Herbert W. Franke: Computergraphik, Computerkunst. 2. Aufl. Berlin etc.: Springer-Verlag 1985

[Götz 94] K.O. Götz, Malerei 1935-1993. Katalogbuch, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 1994

[Nake 74] Frieder Nake: Ästhetik als Informationsverarbeitung. Wien, New York: Springer Verlag 1985

[Nake 93] Frieder Nake (Hrsg.): Die erträgliche Leichtigkeit der Zeichen. Ästhetik, Semiotik, Informatik. Baden-Baden: agis 1993

[Nees 95] Georg Nees: Formel, Farbe, Form. Computerästhetik für Medien und Design. Berlin etc.: Springer Verlag 1995

[Peirce 83] Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt: Suhrkamp 1983, 1993

[Sohn-Rethel 89] Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Rev. u. erg. Neuauflage. Weinheim: VCH 1989

[Steller 92] Erwin Steller: Computer und Kunst. Mannheim: Bibliographisches Institut 1992