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Seid umschlungen, Millionen!

Preface/Acknowledgment

The German Romanticists were the first to broach the idea that art might transform itself into the ultimate religion that would save the world. In the course of the nineteenth century, this idea gave rise to a largely Russian tradition which had momentous consequences for twentieth-century art and politics. A large part of this story was covered by Verena Krieger in her book: "Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne." (Köln, 2006). The Russian components of this page owe much to Krieger's research.

Art engenders the Universal Religion


Friedrich Schiller

Freude, schöner Götterfunken,
     Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken
     Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
     was der Mode Schwert geteilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
     wo dein sanfter Flügel weilt.

Seid umschlungen Millionen!
     Diesen Kuss der ganzen Welt!
     Brüder – überm Sternenzelt
Muss ein lieber Vater wohnen.

Friedrich Schiller: "An die Freude"   Thalia, Vol. 1, # 2 (1786)

"Er wird auch Schiller's Freude und zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwas vollkommenes, denn so viel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene."

Bartholomäus Fischenich about Ludwig van Beethoven.
(Letter to Charlotte von Schiller, January 26, 1793.)

Friedrich Schlegel

Da es nun Zeit ist, und die Religionen sich wieder offenbaren wollen, so muß auch der welcher das weiß, sich zu ihrem Gesandten constituiren. Es giebt nur ein Wunder, und das ist, daß der Mensch Religionen machen kann.

Philosophische Lehrjahre IV (1798-1799), Nr. 1378.
[Ernst Behler (ed.): Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XVIII, p. 308.]

Frey ist man, wenn man Gott macht und dadurch wird man unsterblich.

Philosophische Lehrjahre V (1798-1801), Nr. 74.
[Ernst Behler (ed.): Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XVIII, p. 330.]

Nun habe ich aber eine Bibel im Sinne, die nicht in gewissem Sinne, nicht gleichsam sondern ganz buchstäblich und in jedem Geist und Sinne Bibel wäre, das erste Kunstwerk dieser Art, da die bisherigen nur Produkte der Natur sind. [...] Mein biblisches Projekt aber ist kein litterairisches, sondern – ein biblisches, ein durchaus religiöses. Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie verkündigen zu helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne mich. [...]

Man spricht und erzählt seit etwa hundert Jahren von der Allmacht der Schrift und was weiß ich sonst noch. Im Vergleich mit dem, was da ist und was geschieht, scheint mir das nur ein mißlungner Scherz zu seyn. Ich bin aber gesonnen, Ernst daraus zu machen und die Leute mit ihrem Allmacht beim Wort zu nehmen. Daß dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden. [...]

Doch vielleicht hast Du mehr Talent zu einem neuen Christus, der in mir seinen wackren Paulus findet. Wenigstens ist die eine Ähnlichkeit da, daß eine gewisse Energie und Furie der Wahrheit nur da Entstehen kann, wo redlicher Unglaube nicht aus Unfähigkeit, sondern aus Schwerfälligkeit voranging. [...] Vielleicht hast Du noch die Wahl, mein Freund, entweder der letzte Christ, der Brutus der alten Religion, oder der Christus des neuen Evangeliums zu sein.

Letter to Novalis, December 2, 1798.
[Ernst Behler (ed.): Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XXIV, pp. 205/206]

Mit der Religion, lieber Freund, ist es uns keineswegs Scherz, sondern der bitterste Ernst, daß es an der Zeit ist, eine zu stiften. Das ist der Zweck aller Zwecke, und der Mittelpunkt. Ja ich sehe die größte Geburt der neuen Zeit schon ans Licht treten; bescheiden wie das alte Christenthum, dem mans nicht ansah, daß es bald das Römische Reich verschlingen würde, wie auch jene große Katastrophe in ihren weitern Kreisen die französische Revolution verschlucken wird, deren solidester Werth vielleicht nur darin besteht, sie incitirt zu haben.

Letter to August Wilhelm Schlegel, May 7, 1799.
[Ernst Behler (ed.): Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XXIV, p. 284]

G.W.F. Hegel

Der Held ist selbst der Sprechende, und die Vorstellung zeigt dem Zuhörer, der zugleich Zuschauer ist, selbstbewußte Menschen, die ihr Recht und ihren Zweck, die Macht und den Willen ihrer Bestimmtheit wissen und zu sagen wissen. Sie sind Künstler, die nicht, wie die das gemeine Tun im wirklichen Leben begleitende Sprache, bewußtlos, natürlich und naiv das Äußere ihres Entschlusses und Beginnens aussprechen, sondern das innere Wesen äußern, das Recht ihres Handelns beweisen und das Pathos, dem sie angehören, frei von zufälligen Umständen und von der Besonderheit der Persönlichkeiten in seiner allgemeinen Individualität besonnen behaupten und bestimmt aussprechen. Das Dasein dieser Charaktere sind endlich wirkliche Menschen, welche die Personen der Helden anlegen und diese in wirklichem, nicht erzählendem, sondern eigenem Sprechen darstellen. [pp. 534/535]

Das Selbstbewußtsein der Helden muß aus seiner Maske hervortreten und sich darstellen, wie es sich als das Schicksal sowohl der Götter des Chors als der absoluten Mächte selbst weiß und von dem Chore, dem allgemeinen Bewußtsein, nicht mehr getrennt ist. [p. 541]

Die reinen Gedanken des Schönen und Guten zeigen also das komische Schauspiel, durch die Befreiung von der Meinung, welche sowohl ihre Bestimmtheit als Inhalt wie ihre absolute Bestimmtheit, das Festhalten des Bewußtseins enthält, leer und eben dadurch das Spiel der Meinung und der Willkür der zufälligen Individualität zu werden.
Hier ist also das vorher bewußtlose Schicksal, das in der leeren Ruhe und Vergessenheit besteht und von dem Selbstbewußtsein getrennt ist, mit diesem vereint. Das einzelne Selbst ist die negative Kraft, durch und in welcher die Götter sowie deren Momente, die daseiende Natur und die Gedanken ihrer Bestimmungen, verschwinden; zugleich ist es nicht die Leerheit des Verschwindens, sondern erhält sich in dieser Nichtigkeit selbst, ist bei sich und die einzige Wirklichkeit. Die Religion der Kunst hat sich in ihm vollendet und ist vollkommen in sich zurückgegangen. Dadurch, daß das einzelne Bewußtsein in der Gewißheit seiner selbst es ist, das als diese absolute Macht sich darstellt, hat diese die Form eines Vorgestellten, von dem Bewußtsein überhaupt Getrennten und ihm Fremden verloren, wie die Bildsäule, auch die lebendige schöne Körperlichkeit oder der Inhalt des Epos und die Mächte und Personen der Tragödie waren; – auch ist die Einheit nicht die bewußtlose des Kultus und der Mysterien, sondern das eigentliche Selbst des Schauspielers fällt mit seiner Person zusammen, so wie der Zuschauer in dem, was ihm vorgestellt wird, vollkommen zu Hause ist und sich selbst spielen sieht. Was dies Selbstbewußtsein anschaut, ist, daß in ihm, was die Form von Wesenheit gegen es annimmt, in seinem Denken, Dasein und Tun sich vielmehr auflöst und preisgegeben ist, es ist die Rückkehr alles Allgemeinen in die Gewißheit seiner selbst, die hierdurch diese vollkommene Furcht- und Wesenlosigkeit alles Fremden und ein Wohlsein und Sichwohlseinlassen des Bewußtseins ist, wie sich außer dieser Komödie keines mehr findet. [pp. 543/544]

Durch die Religion der Kunst ist der Geist aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten, denn sie bringt seine Gestalt hervor und setzt also in ihr das Tun oder das Selbstbewußtsein , das in der furchtbaren Substanz nur verschwindet und im Vertrauen sich nicht selbst erfaßt. Diese Menschwerdung des göttlichen Wesens geht von der Bildsäule aus, die nur die äußere Gestalt des Selbsts an ihr hat, das Innere aber, ihre Tätigkeit, fällt außer ihr; im Kultus aber sind beide Seiten eins geworden, in dem Resultate der Religion der Kunst ist diese Einheit in ihrer Vollendung zugleich auch auf das Extrem des Selbsts herübergegangen; in dem Geiste, der in der Einzelheit des Bewußtseins seiner vollkommen gewiß ist, ist alle Wesenheit versunken. Der Satz, der diesen Leichtsinn ausspricht, lautet so: das Selbst ist das absolute Wesen ; das Wesen, das Substanz und an dem das Selbst die Akzidentalität war, ist zum Prädikate heruntergesunken, und der Geist hat in diesem Selbstbewußtsein, dem nichts in der Form des Wesens gegenübertritt, sein Bewußtsein verloren. [p. 545]

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Bamberg & Würzburg: Goebhardt, 1807. (Ch. VII B. Die Kunstreligion.) [Page numbers from: G.W.F. Hegel: Werke, Band 3. Frankfurt a. M., 1979.]

Ludwig van Beethoven

[...] das notwendige, allmächtige, allvereinende [...] Wort, das der erlöste Weltmensch aus die Fülle des Weltherzens ausruft, das Beethoven als Krone auf die Spitze seiner Tonschöpfung setzte. Dieses Wort war: ––– Freude! Und mit diesem Worte ruft er den Menschen zu: "Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!" ––– Und dieses Wort wird die Sprache des Kunstwerkes der Zukunft sein. –––
Die letzte Symphonie Beethovens ist die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft. Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft: das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet hat.

Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Otto Wigand, 1850; pp. 93/94.

[Re: Ludwig van Beethoven: Symphony No. 9 (Opus 125), 1824.
Final chorus based on Friedrich Schiller's "An die Freude" (1785/1803).]

The inner contradiction and tragic antinomy of Beethoven's Ninth Symphony, [...] is its betrayal of music itself [...] and its sacrifice of music's unutterable mysteries to the Word, to the commonly comprehensible symbol of the universal unanimity of thought – a betrayal of personality and a renunciation of its highest claims in the name of love and universal truth.” "The extreme daring of the individual spirit passes into its opposite: into the negation of the individual for the sake of the universal idea.”
"Perhaps once again genuine tragedy will arise from the matrix of music; perhaps the resurrected dithyramb will 'prostrate millions into the dust' as is sung in the only dithyramb of the new world – the 9th Symphony of Beethoven."

Vyacheslav Ivanov: "Ellinskaia religiia stradaiushchego boga. Opyt religiozno-istoricheskoi kharakteristiki" [The Hellenic religion of the suffering god. An essay in religious-historical description]. Novyi put', no. 1-9 (January-September 1904). (Reprinted in: Sobranie sochinenii [Collected Works]. 4 vols. Brussels: Foyer Oriental Chrétien, 1971-1987. [Vol. 1, pp. 730 ff.])

Man bedenke Adornos erschreckende Randbemerkung zu den "umschlungenen Millionen" im Jubelgesang An die Freude – ein einziges Wort: "Hitler"!

George Steiner: "Um die Muse aufzumuntern." Rede zur Eröffnung der Marbacher Sonderausstellung zu Schillers Leben und Werk (April 23, 2005). Die Zeit, 2005, # 18 (April 28)

Aleksandr Ivanov

Aleksander Ivanov [1806-1858] erwartete die baldige Verwirklichung des Himmelreichs auf Erden. Nach seiner festen Überzeugung war das russische Volk "Ergebnis aller Völker, die bisher existiert haben. Von ihm hat die ganze Menschheit die Gesetze zu erwarten, infolge derer das allgegenwärtige Reich Gottes auf unserem Planeten Erde eintreten wird." [...] als Hauptakteur der Verwirklichung des "goldenen Zeitalters" dachte er sich den Zaren Nikolaj I., der aufgrund seiner uneingeschränkten Macht dem Göttlichen am nächsten komme. Dieser müsse seine historische Mission erkennen und annehmen, Christus ähnlich werden und mit starker Hand die Führung in das Himmelreich übernehmen. Da jedoch auch der Zar ein Mensch und damit fehlbar ist, bedarf er der weisen Beratung und Lenkung durch einen Künstler – Ivanov selbst. [p. 10.]

Er will einen "Tempel des Himmelreichs" errichten. Dieser soll  [...] die schöpferischen fähigkeiten der gesamten Menschheit in Anspruch nehmen. Er sollte ihre Kräfte vollständig ausschöpfen, danach "wird sie keine Kräfte mehr haben, um zu schaffen, sondern wird in ewigen Frieden leben." [pp. 12/13.]

Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau, 2006.

Richard Wagner

Wer wird demnach aber der Künstler der Zukunft sein? Der Dichter? Der Darsteller? Der Musiker? Der Plastiker? –– Sagen wir es kurz: Das Volk; dasselbige V0lk, dem wir selbst heut zu Tage das in unserer Erinnerung lebende, von uns mit Entstellung nur nachgebildete, einzige wahre Kunstwerk, dem wir die Kunst überhaupt einzig verdanken.

Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Otto Wigand, 1850, p. 220.

Eine Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen Formelwesens (denn das "Leitmotiv" ist eine Formel, – mehr noch: es ist eine Monstranz, es nimmt eine fast schon religiöse Autorität in Anspruch) führt mit Notwendigkeit ins Zelebrierend-Kirchliche zurück, – ja ich glaube, daß die heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz alles Theaters der Ritus ist, aus welchem er bei Heiden und Christen hervorgegangen. Kirche und Theater, so weit auch ihre Wege auseinander gegangen sind, so sind sie doch stets durch ein geheimes Band verbunden geblieben; und ein Künstler, der, wie Richard Wagner, gewohnt war, mit Symbolen zu hantieren und Monstranzen emporzuheben, mußte sich schließlich als Bruder des Priesters, ja selbst als Priester fühlen.

Thomas Mann: "Versuch über das Theater" Nord und Süd, January/February 1908. Repeated almost verbatim in: "Leiden und Größe Richard Wagners" Neue Rundschau, 1933. [Gesammelte Werke, Frankfurt/M., 1990, Vol. X, pp. 53/54; Vol. IX, p. 366.]

[Wagners Schriften] enthalten die Forderung nach Aufhebung von Kunst und Politik in einer universalisierten Kunst. Das Musikdrama als moderne Neuschöpfung des verlorengegangenen antiken "Gesamtkunstwerks" soll mittels der Verschmelzung der Einzelkünste im Dienste eines mythischen Stoffes die Synthese von Gefühl und Verstand bewirken. Indem es letztlich auch die Trennung von Akteuren und Publikum aufhebt und einen idealen Zustand freier und gleicher Partizipation erzeugt, wird das "Kunstwerk der Zukunft" zum Modell der künftigen neuen Gesellschaft.

Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau, 2006, pp. 30/31.

Friedrich Nietzsche

Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der “Freude” in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder “freche Mode" zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. [...] Als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: “Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?”

Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik   (1872), Kapitel 1.

Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.

Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), Kapitel 19.

Vladimir Solov'ev

"Die Organisierung unserer ganzen Wirklichkeit ist die Aufgabe eines universalen Schöpfertums, der Gegenstand einer großen Kunst – die vom Menschen zu schaffenden realisierung des göttlichen Prinzips in der ganzen empirischen, natürlichen Wirklichkeit und die Verwirklichung der göttlichen Kräfte unmittelbar im realen Sein der Natur – die freie Theurgie." "Diese Aufgabe bestimme ich als Aufgabe der Kunst, ihre Elemente finde ich in den Werken der menschlichen Schöpfung, und ich übertrage somit die Frage nach der Verwirklichung der Wahrheit in die ästhetische Sphäre."

Vladimir Solov'ev: Kritik der abstrakten Prinzipien (1880). [Translations from: Krieger 2006, pp. 61/62.]

Der Sinn der Kunst ist die Fortsetzung der Schöpfung. Der Mensch ist nicht nur deren höchstes Resultat, sondern kann und muss selbst schöpferisch wirken. Das menschliche Schöpfertum dient der Vollendung des göttlich-natürlichen Schöpfungsprozesses, zugleich der Wiederherstellung der All-Einheit der Weltseele mit Gott. [...] Die Kunst [...] wird [...] eine neue Betätigungssphäre erreichen, in der weltliches Handeln, mystisch-religiöses Empfinden und Erkenntnis der Wahrheit synthetisiert sind. [...]
Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen Reflex auf die zeitgenössische neuere Erforschung der Psychophysiologie der menschlichen Wahrnehmung insbesondere durch Helmholtz, Wundt und Mach, die ja den kreativen Anteil der Apperzeption hervorhoben. [p. 69]

Solov'ev vermeidet es, seinen Transformationsanspruch für den Kunst zu konkretisieren. Er sieht völlig klar, dass die existierende Kunstformen sein Programm nicht erfüllen können, spricht daher von neuen Kunstformen – ohne zu wissen, wie diese aussehen könnten, und ohne [...] ernsthaft nach Anzeichen der von ihm erwarteten neuen Entwicklung Ausschau zu halten. [p. 72]

Solov'ev's philosophy as summarized and discussed by Verena Krieger in: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau, 2006.

Aleksandr Skrjabin

Das "Mysterium" sollte kein Kunstwerk im traditionellen Sinne sein, sondern eine die gesamte Menschheit erfassende liturgische Handlung, die das Ende der Universalgeschichte und die Auflösung von Raum und Zeit in einen Zustand der ewigen Erlösung bewirken sollte. Im ekstatischen Vollzug des "Mysteriums" sollte die göttliche Evolution vollendet werden, die Rückkehr des Geistes zu sichselbst und die Einheit des Universums mit Gott realisiert werden. [...] Bei dem "Mysterium" sollte die Trennung von Aufführenden und Publikum [...] aufgehoben sein. Ursprünglich sollte die gesamte Menschheit mitwirken; später beschränkte sich Skrjabin auf etwa 3000 Akteure, sogenannte Eingeweihte, die durch gründliche Einweisung in hierfür eigens eingerichtete Schulen auf das Ereignis vorbereitet werden sollten. Diese Mitwirkenden sollten in konzentrischen Kreisen, hierarchisch nach dem Grad ihrer Eingeweihtheit gestaffelt, um den selbst in der Kreismitte stehenden Skrjabin herum aufgestellt werden und   im Verlauf der rituellen Handlung tanzend und singend allmählich immer näher zueinander- und ineinanderrücken. Das "Mysterium" sollte sieben Tage lange dauern, an deren Beginn vorbereitenden Handlungen stehen wie die physische, moralische, ästhetische und geistige Reinigung und Vorbereitung des Ortes; den Hauptteil sollte eine Nachvollzug der Geschichte des Universums bilden; und am Ende sollten alle Beteiligten in einer kollektiven erotischen Ekstase die Dualität von Körper und Geist überwinden und sich in einem orgiastischen "lebenschaffenden" Tanz in einer höheren energetischen Zustand transfigurieren. [p. 80]

Als Ort der Realisation stellte sich Skrjabin einen gewaltigen, durch Wasserspiegelungen als Kugel erscheinenden halbkugelförmigen, mit Zinnen und Sternen bekrönten Tempel mit zwölf Toren und ebensovielen riesigen Pfeilern vor, der eigens zu diesem Zweck in Indien als der "Wiege der Menschheit" errichtet werden sollte. [p. 81]

Statt an der Verwirklichung des "Mysteriums" zu arbeiten, begann Skrjabin im Jahr 1913 mit der Arbeit an dem gleichfalls multimedial angelegten Werk "Vorbereitende Handlung" (...), das die Menschheit auf das Mysterium vorbereiten sollte, und für das er gleichfalls festlegte, dass  es keine Zuschauer geben dürfe, sondern jeder zugleich aktiver Teilnehmer sein müsse – wenn nicht des Chores, so zumindest des mit diesem verbundenen feierlichen Umzuges. [p. 84]

Verena Krieger about Aleksandr Skrjabin's "Mysterium" project (1902-1915). In: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau, 2006.

"From the bells emanates a summons, directed to all of mankind. Upon this call,  everyone will travel to India to the temple. They will be drawn to India because there lies the cradle of humanity. That is where they came from. So in India they will also end their journey. The construction of the Temple will be part of the Mysterium as well." [p. 95]

"Theatre and stage materialize art; they express the splitting up of unity into polarities. Due to the stage, the spectators  and listeners become separated from what is taking place instead of  being drawn into the action. In my work there will be no theatre!  Even Wagner, in spite of his genius, could not overcome the theatrical aspect and the stage, because he did not understand what was at stake.  He did not know that the whole problem lies in this division.  It prevents unity and ensures that no experience, but only mere performance is possible.[...] But in the Mysterium will the stage be eliminated. In the Mysterium there will be neither spectators, nor listeners." [p. 186]

Aleksandr Skrjabin, as quoted in: Leonid Sabaneyev: Vospominaniya o Skryabine [Reminiscences of Skrjabin]. Moscow: Gosudarstvennoe Izdatelstvo, 1925. [Reprint: Moscow: Klassika 21, 2000.]

Scriabin [...] dreamed of the communal participation of the spectator, but with that insight of the genuine artist  which was so intrinsic a part of his nature, he gave to it a  precisely ordered character. In order to be admitted to the  “action,” the spectator had to be a specially prepared “initiate,”  he had to be robed in special dress, etc., etc. [...] If you examine Scriabin's artistic goals, refracting them through the prism  of pure theatrical art, you will see that in the end there was  to have been achieved not an action with the active participation  of the spectator, but action with the orderly, previously rehearsed participation of the masses without any elements of chance whatever – masses which, in fact, had ceased to be spectators and had become participants in the action, just as they had to a lesser degree in productions with large mass scenes (for instance Reinhardt's Oedipus Rex ).

Alexander Tairov: Zapiski rezhissyora , Moscow, 1921, [English translation: Notes of a Director. Coral Gables, Florida: University of Miami Press, 1969, p. 139.]

Russian Symbolism

"Die Zuschauermenge soll zu einem Chorkörper verschmelzen, gleich der mystischem Gemeinde des alten Orgien- und Mysterienspiels." "Die Bühne muss über die Rampe treten und die Gemeinde in sich aufnehmen, oder die Gemeinde muss die Bühne absorbieren." [p. 112]

"Wir wollen uns versammeln, um gemeinschaftlich zu schaffen, 'tätig zu sein', und nicht, um nur zuzuschauen. [...] Genug des Mimens – wir wollen Handlung." [p. 94]

"Die Organisation der zukünftigen chorischen Handlung ist die Organisation der universalen Volkskunst, und diese wiederum ist die Organisation der Volksseele." "Die Theater der chorischen Tragödie, der Komödie und des Mysteriums müssen Brandherde der schöpferischen [...] Selbstbestimmung des Volkes werden." "Nur dann wird das Problem der Verschmelzung von Schauspielern und Zuhörern zu einem orgiastischen Körper endlich gelöst, wenn durch lebendige und schöpferische Vermittlung des Chores das Drama dem Publikum nicht von außen vorgesetzt, sondern innere Angelegenheit der Volksgemeinde wird [...] und erst dann existiert wirkliche politische Freiheit, wenn die Chorstimme dieser Gemeinde zu einem echten Referendum des wahren Volkswillen wird." [p. 95]

Viacheslav Ivanov: “Predchuvstviia i predvestiia: Novaia organicheskaia epokha i teatr budushchego” ["Premonitions and forebodings: The new organic epoch and the theatre of the future"]. Zolotoe runo, no. 4/6 (1906). [German translations quoted from Krieger 2006.]

Our nation's soul will [. . .] be revealed in an artistry coming from the nation, summoned forth by the nation. Then our artist and our nation will meet. The country will be covered with orchestrae and thymelae, where a round-dance will sing, where true mythopoesis [...] will rise again in the action of a tragedy or comedy, a national dithyramb or mysterium, where freedom itself will find hearths for its full, unsullied, immediate self-affirmation (for choruses will be a genuine expression and voice of the nation's will). Then, for the first time, our artist will be only an artist, a craftsman of the joyful craft, the executor of the commune's creative commissions, the hand and voice of a crowd that knows its beauty, and a vatic medium of the nation-artist.

Viacheslav Ivanov:  "On the Joyful Craft and the Joy of the Spirit." (1907) English translation by Robert Bird in: Viacheslav Ivanov: Selected Essays. (Ed. Michael Wachtel.) Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 2001. [p. 127]

Whatever the content of future tragedy may be, it will not be able to get along without the dance. [...] But the dance, I hope, will be choral. That is why the footlights in the theatres must be removed. Today, the theatre spectator participates only by observing himself in the more or less crooked mirrors that are held up to him from the stage; the next step in his participation in the tragic action must be his participation in the tragic dance. [...] The action of the tragedy will be accompanied by and alternated with the dance. Joyous dancing? Perhaps. In any case, more or less frantic. Because dance is nothing else than the rhythmic frenzy of body and soul, plunging into the tragic element of music. [p. 98]

The whole world is only the scenery behind which is hidden the creative soul – My soul. Every earthly face and every earthly body is only a guise, only a marionette [...]. But tragedy arrives upon the scene, [...] and through the scenery there appears translucent a world transfigured by Me, the world of My soul, the realization of My sole will – and through the guises and appearances there shines My sole image and My sole transfigured flesh. Flesh beautiful and liberated. The rhythm of liberation is the rhythm of the dance. The grandeur of liberation is the joy of the beautiful, naked body. The dancing spectators will leave their petty-bourgeois clothes at the door of the theatre. And they race along in the light dance. So the crowd, which came to watch, will be transformed by the round dance, participating in the tragic action. [p. 99]

Fedor Sologub: "Teatr odnoi voli" In: Teatr: Kniga o novom teatre. St. Petersburg: Shipovnik, 1908. English translation by Daniel Gerould: "The Theatre of One Will" The Drama Review, Vol. 21, No. 4 (December 1977), pp. 85-99.

"[...] die Ausweitung der Formen des künstlerischen Schaffens auf das Leben [...] ist möglich, wenn sich die Grenze zwischen Kunst und Leben in der religiösen Umgestaltung des Lebens verwischt. Die einheit von Form und Inhalt und von Kunst und Leben ist das Postulat jeglichen Symbolismus. Der Sinn der Kunst ist nur religiös."

Andrej Belyj: "Smysl iskusstva" ("The Meaning of Art"), 1908. In: Simvolizm, Moscow, 1910. [As quoted in: Krieger 2006, p. 129.]

"Der Symbolismus führt die Kunst zu der schicksalshaften Linie, hinter der sie aufhört, nur Kunst zu sein; sie wird zum neuen Leben und zur Religion der freien Menschheit."

Andrej Belyj: "Über die Ergebnisse der Entwicklung der neuen russischen Kunst" (1909). In: Arabeski, Moscow, 1911. [As quoted in: Krieger 2006, p. 130.]

"Das echte Schöpfertum ist Theurgie, Gotteshandlung, gemeinsames Werken mit Gott." [p. 129]

"Kunst, die eine neue Welt, ein anderes Sein, ein anderes Leben, die Schönheit als Seiendes erschafft." [p. 263]

Nikolaj Berdjaev: Smysl tvorchesta. (Der Sinn des Schaffens.) Moscow, 1916. [Cf. Krieger 2006, p. 140.]

Sowjet Socialism

"In socialist society the stage will once again merge with the audience, and theatrical spectacles with their division of spectator and actor will yield to collective fêtes, ceremonial processions, mass choruses."

Vladimir M. Friche: "Teatr v sovremennom i budushchem obshchestve," in: Krizis teatra: Sbornik statei. Moscow: Problemy iskusstva, 1908, p. 185. [English translation: Von Geldern, 1993, p. 34.]

In a solemn affirmation of his penetration into the world beyond, Scriabin did not speak the language of the individual will, rather with the choral sound of the all-unity that he had elevated from the depths. [...] Should the revolution that we are now experiencing prove itself to be truly a great Russian revolution – a suffering and painful birth of the "independent Russian Idea" – the future historian will acknowledge Scriabin to be one of its spiritual progenitors; and in this very revolution perhaps the first measures of his unwritten Mysterium.

Vyacheslav Ivanov, “Skriabin i duch revolutsii” [“Scriabin and the Spirit of the Revolution”] (Speech to the Scriabin Society in Moscow, October 24, 1917). In: Viacheslav Ivanov: Sobranie Sochinenii [Collected Works], Vol. 3 (Brussels: Foyer Oriental Chrétien, 1979), 190-194.

1. It is necessary to facilitate however possible the inculcation, distribution, and development of the chorus; to keep large choruses at the expense of the municipality and to patronize the activity of choral societies; for choruses to perform on city squares on holidays; [. . .] to create out of the chorus a vital and artistically effective organ for the enthusiastic expression of popular thought and popular will.
2. It is necessary to strive to adapt the popular celebrations to the forms of rite, lending it the character of cogent lyrical-dramatic unity that develops its main idea in the harmonious continuity of the whole. [. . .]
3. In the summer it is necessary to perform selected works from the existing theatrical repertory [. . .] on large stages and round arenas set up under the open sky [. . .] which would serve as a true sign that they are inwardly consistent with the element of grand, universal art, insofar as everything private, individual, isolated, sick, and vulgar would fall away by itself, yielding its place to the depiction of heroic actions, national movements, and, finally, to the ideal element in the symbolic images of myth, fairy tale, and legend.
Such an initiative could give rise to original forms of spiritual collectivism.

Viacheslav Ivanov. In: Vestnik teatra, no 26 (14-16 May 1919), p. 4. [English translation: Robert Bird: The Russian Prospero. The Creative Universe of Viacheslav Ivanov. Madison, Wisconsin: The University of Wisconsin Press, 2006, pp. 32/33. Bird (p. 33) mentions that the quoted passage was "incorporated almost word for word into the resolution adopted by the Conference on Adult Education held by Narkompros". ]

1. The theater is a temple.
2. Universality.
3. Monumentality.
4. Creativity of the masses.
5. An orchestra of the arts.
6. The joy of labor.
7. Transfiguration of the world.

Nikolai G. Vinogradov-Mamont, 1919. In: Krasnoarmeiskoe chudo, p. 13/14. Leningrad: Iskusstvo, 1972. [English translation: Von Geldern, 1993, p. 123.]

The people must create a theater from its cultic rituals. [...] The foundation of the theater of the future will be the drama of the choral dance.

Vsevolod Vsevolodskii-Gerngross. Lecture at the TEO Subsection for Worker-Peasant Theater, 1919.
[As quoted in: Von Geldern, 1993, p. 137.]

We must invite on the one hand proletarian collectives [...] and on the other hand individual artists [...] whose ideology inclines toward the proletariat, who can merge with it in a single creative impulse. These people of art are the artistic leaders of the masses; they arouse the creative urge of the masses and find the appropriate forms to express their enthusiasm. On their part the proletarian collectives contribute to the festival their internal content – i.e., the revolutionary pathos, their intoxication, orgiasm – without which a mass theatrical drama cannot be created.

P. S. Kogan: "Plan pervogo narodnogo deistva-prazdnestva," Vestnik teatra, no. 46 (1919), p. 5.
[English translation: Von Geldern, 1993, p. 136.]

Joseph Beuys

Das einfache Anschauen eines Menschenantlitzes ist schon in sich etwas Sakramentales.

Joseph Beuys. In: Horst Schwebel: Glaubwürdig. Fünf Gespräche über heutige Kunst und Religion mit Joseph Beuys, Heinrich Böll, Herbert Falken, Kurt Mari, Dieter Wellershoff. München: Kaiser Verlag, 1979, p. 27.

Ich spreche jetzt vom Menschen, als einem Künstler, der Kreator ist. Damit nehme ich einen Begriff von Gott. Ich nehme einen Begriff von Gott und gebe den Begriff dem Menschen, aber das brauche ich ja nicht zu tun, denn ich bin ja viel zu schwach. Das ist ja bereits durch Christus geschehen. Die Tat, die den Menschen frei machen wird und die Christus im Menschen bedeutet und den Souverän im Menschen herausbildet, ist bereits getan. Aber es wird verschwiegen. Es wird durch die materialistischen Ideologien verschwiegen, es wird auch durch Kirchen totgeschwiegen. Das sind die eigentlichen Zusammenhänge unserer, sagen wir einmal schlicht, unserer Anthropologie, unseres Menschtums. Der Mensch wird totgeschwiegen aus eben diesen Machtinstinkten, die zum Niedergang geführt haben.

Joseph Beuys. In: Reden über das eigene Land: Deutschland (3), München 1985, pp. 33-52. [p. 41.]

Ich denke, daß das eines der wichtigsten Ergebnisse eines erweiterten Kunstbegriffes ist: den Menschen als Künstler zu bezeichnen, weil er einer ist – jeden Menschen als einen Künstler zu bezeichnen, weil er einer ist, weil er ja doch nichts anderes ist als derjenige, der in die Verhältnisse, z.B. in die Stoffeswelt so eingreift, daß irgendein Produkt zustande kommt, daß irgendeine Gestalt zustandekommt – daß also dieser Mensch als Träger von Fähigkeiten begriffen wird, und daß mit diesem Komplex der Ausgangspunkt bezeichnet ist [...]. Dieser Ausgangspunkt findet statt in dem Wirken menschlicher Kreativität. Dieses Wort enthält wieder eine lateinische Wurzel und ist von Gott genommen. Hier wird vom Menschen etwas behauptet, als wäre er ein Gott. Ich glaube, das entspricht einer objektiven Realität in bezug auf den Werdegang des Menschen: heraus nämlich aus seinem Geführtwerden durch Götter hin zu seinem Sich-Selbst-Finden und selbst ein göttliches Wesen zumindest in sich zu bemerken.

Joseph Beuys: Aktive Neutralität. Die Überwindung von Kapitalismus und Kommunismus. Ein Vortrag mit Diskussion am 20. Januar 1985. Wangen: Freie Volkshochschule Argentai, 1985, p. 14.

HS: "Wird hier nicht der Kunstbegriff überfordert? Kann Kunst denn all dies leisten, was sonst Christentum und Kirche zu leisten hätten?"

JB: "Die Kunst muß das leisten, sonst ist sie keine Kunst mehr. Mit dem herrschenden Kunstbegriff ist das natürlich nicht zu leisten. Kunst kann nicht mehr das sein, was sie war. Der Begriff muß totalisiert werden. D. h. er muß sich auf jedermann beziehen, er kann sich nicht nur auf den "Künstler" beziehen. In der Vergangenheit hat sich die Kunst bezogen auf die engere Kultur, ganz speziell auf die Malerei und Bildhauerei, die Dichtkunst usw., also auf die Disziplinen. Aber so kommen wir nie zu einer anthropologischen Dimension von Kreativität. Ich totalisiere den Begriff und habe dann eine Begründung für den Begriff Kreativität. Ohne diese Begründung ist der Begriff rein modisches Geschwatz." [pp. 39/40]

JB: "Es müßten also neue Institutionen entstehen, und sie werden auch entstehen und werden die alten kirchlichen ablösen. So wie es einmal Monte Cassino gegeben hat, wird es in der Zukunft etwas anderes geben, in dem Augenblick, wo die Menschen erkennen werden, daß die Aussagen über das Wesen des Christlichen gar nicht mehr aus den Kirchen kommen können, daß sie aus dieser Ecke nichts mehr zu erwarten haben." [p. 42]

Joseph Beuys talking to Horst Schwebel. In: Horst Schwebel: Glaubwürdig. Fünf Gespräche über heutige Kunst und Religion mit Joseph Beuys, Heinrich Böll, Herbert Falken, Kurt Mari, Dieter Wellershoff. München: Kaiser Verlag, 1979.



        

Art will not engender the Universal Religion


It is finally time to give up these naieve ravings about some kind of joint orgiastic rites that lead to a condition of ecstasy. And V. Ivanov's dreams of some sort of theatre of the future are just as naieve. A new Bayreuth will not save anyone; if it is possible to have a genuine, cultured theatre that unites people, then it will of course not be the cause, but the result of people united already. Ivanov's theatre can only be a product, a consequence of people's religious life; it is not possible to create this religion by any kind of mystical aestheticism.

Dmitry Filosofov: "Misticheskii anarkhizm" [Mystical Anarchism], 1906.

We are going through a period of amateurism, when everyone fancies that he can create new forms of theater. [...] Popular festivals, as such, are not theater; but when they have been created by directors and producers, they lose their popular character and become nothing more than an expanded application of the directorial art of 'mass scenes.'

Aleksandr Tairov, quoted in M. Zagorskii: "V sporakh o sovremennom i griadushchem teatre. Na mitinge iskusstv v tsirke," Vestnik teatra, no. 48 (1920), pp. 9-10. [English translation: Von Geldern, 1993, pp. 135/136.]

Many think that collective creation denotes a spontaneous, independent manifestation of the will of the masses. But [...] until social life attunes the masses to an instinctive observation of a higher order and rhythm, it is impossible to expect anything but merry noise and the multicolored flux of holiday clothes from the masses.

Anatolii V. Lunacharskii, "O narodnykh prazdnestvakh," Vestnik teatra, no. 62 (1920), p. 4.
[English translation: Von Geldern, 1993, p. 136.]

Among ideologists and theoreticians of the theatre, Vyacheslav Ivanov attaches the greatest significance to   the participation of the spectator. He considers that the essential element of the theatre is its communal nature, that theatrical activity is essentially communal action, and that the decline of the contemporary theatre is to be explained chiefly by the absence of communion – that the spectator, separated from the stage by the footlights, has become anemic, acting only as a witness to the action being carried out [...]. I say no. I suggest that the communal aspect of theatre has never been the distinguishing feature of its being to such an extent. [...] While being unquestionably characteristic of a whole line of phenomena of the human spirit, communal action is at the same time least of all characteristic of theatre. On the contrary, when it does appear, it is a destructive rather than constructive element. [pp. 132-134.]

Long live the footlights! [p. 142.]

Alexander Tairov: Zapiski rezhissyora, Moscow, 1921,
[English translation: Notes of a Director. Coral Gables, Florida: University of Miami Press, 1969,]

Die Imagination der  Kunst als zentraler Macht- und Handlungsinstanz – für die es eine reale Entsprechung niemals gegeben hat – ist als das Produkt realer politischer Ohnmacht zu begreifen, der Grunderfahrung der russischen Intelligenz im 19. Jahrhundert. [...] [So] richteten die meisten russischen Intellektuellen ihre Erwartungen nicht auf Recht und Wissenschaft und hofften nicht auf gesellschaftliche und staatliche Reformen, sonder pflegten adventistische und apokalyptische Spekulationen. [pp. 17/18.]

Die großen, staatlich organisierten Feierlichkeiten in der Sowjetunion erfordern von Beginn an eine zentralistische Planung, die mit einer erheblichen Aufwertung und Stärkung des Regisseurs, seiner quasi-diktatorischen Rolle verbunden ist. Das spontan-kreative Moment, der schöpferisch-ekstatische Anteil des selbst agierenden Publikums wird damit zwangsläufig hinfällig. [p. 123]

Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau, 2006.

Einer der tiefen Irrtümer im Zusammenhang mit der Idee einer Kunstreligion, wie sie von den Frühromantikern bis zu Richard Wagner und Stefan George gepflegt wurde, besteht in der Annahme, die Kunst vermöge aus sich heraus eine allgemeine Welt- und Lebensauffassung hervorbringen. Das kann die Kunst ebenso wenig wie die modernen Naturwissenschaften. Als Mensch wird der Künstler in solche allgemeinen Auffassungen hineinsozialisiert; als denkendes Wesen orientiert er sich darin. Durch die künstlerische Arbeit selbst schließlich beteiligt er sich an der kooperativen Anstrengung der Weiterführung, Ausarbeitung und Kritik dieser allgemeinen Auffassungen, und zwar auch dann, wenn er dabei eine ganz individuelle, unpopuläre oder nicht leicht zugängliche Vorstellung von menschlichem Leben entwickelt.

H. Tegtmeyer: Kunst. Berlin/New York: De Gruyter, 2008, p. 118.

 

 

References and further literature


Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart, 1977.

Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau, 2006.

Anatolij Ilich Mazaev: Prazdnik kak socialno-chudozhestvennoe javlenie. (Das Fest als sozial-künstlerisches Ereignis.) Moscow, 1978.

James von Geldern: Bolshevik Festivals, 1917-1920. Berkeley: University of California Press, 1993.

Don Louis Wetzel: Alexander Scriabin in Russian musicology and its background in Russian intellectual history. Ph.D. Dissertation, University of Southern California, 2009.