Friedrich Schiller
Freude,
schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
was der Mode Schwert geteilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.
Seid umschlungen
Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muss ein lieber Vater wohnen.
Friedrich Schiller:
"An die Freude" Thalia, Vol. 1,
# 2 (1786)
"Er wird auch Schiller's Freude und
zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwas vollkommenes,
denn so viel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene."
Bartholomäus Fischenich
about Ludwig van Beethoven.
(Letter to Charlotte von Schiller,
January 26, 1793.)
Friedrich Schlegel
Da es nun Zeit ist,
und die Religionen sich wieder offenbaren wollen, so muß auch
der welcher das weiß, sich zu ihrem Gesandten constituiren.
Es giebt nur ein Wunder,
und das ist, daß der Mensch Religionen machen kann.
Philosophische
Lehrjahre IV (1798-1799), Nr. 1378.
[Ernst Behler (ed.): Kritische
Friedrich Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XVIII,
p. 308.]
Frey ist man, wenn man Gott macht und dadurch wird man unsterblich.
Philosophische
Lehrjahre V (1798-1801), Nr. 74.
[Ernst Behler (ed.): Kritische
Friedrich Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XVIII,
p. 330.]
Nun habe ich aber eine Bibel
im Sinne, die nicht in gewissem Sinne, nicht gleichsam sondern
ganz buchstäblich und in jedem Geist und Sinne Bibel wäre,
das erste Kunstwerk dieser Art, da die bisherigen nur Produkte
der Natur sind. [...] Mein biblisches Projekt aber ist kein
litterairisches, sondern – ein biblisches, ein durchaus religiöses.
Ich denke eine neue Religion zu stiften oder vielmehr sie verkündigen
zu helfen: denn kommen und siegen wird sie auch ohne mich.
[...]
Man spricht und erzählt
seit etwa hundert Jahren von der Allmacht der Schrift und was
weiß ich sonst noch. Im Vergleich mit dem, was da ist und was
geschieht, scheint mir das nur ein mißlungner Scherz zu seyn.
Ich bin aber gesonnen, Ernst daraus zu machen und die Leute
mit ihrem Allmacht beim Wort zu nehmen. Daß dies durch ein
Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der
Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise
immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller
werden. [...]
Doch vielleicht hast Du mehr Talent zu einem neuen
Christus, der in mir seinen wackren Paulus findet. Wenigstens
ist die eine Ähnlichkeit da, daß eine gewisse Energie und Furie
der Wahrheit nur da Entstehen kann, wo redlicher Unglaube nicht
aus Unfähigkeit, sondern aus Schwerfälligkeit voranging. [...]
Vielleicht hast Du noch die Wahl, mein Freund, entweder der
letzte Christ, der Brutus der alten Religion, oder der Christus
des neuen Evangeliums zu sein.
Letter to Novalis,
December 2, 1798.
[Ernst Behler (ed.): Kritische Friedrich
Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XXIV, pp.
205/206]
Mit der Religion, lieber Freund, ist es uns keineswegs Scherz,
sondern der bitterste Ernst, daß es an der Zeit ist, eine zu
stiften. Das ist der Zweck aller Zwecke, und der Mittelpunkt.
Ja ich sehe die größte Geburt der neuen Zeit schon ans Licht
treten; bescheiden wie das alte Christenthum, dem mans nicht
ansah, daß es bald das Römische Reich verschlingen würde, wie
auch jene große Katastrophe in ihren weitern Kreisen die französische
Revolution verschlucken wird, deren solidester Werth vielleicht
nur darin besteht, sie incitirt zu haben.
Letter to August Wilhelm Schlegel,
May 7, 1799.
[Ernst Behler (ed.): Kritische Friedrich
Schlegel-Ausgabe. Paderborn, 1958 ff. Vol. XXIV, p. 284]
G.W.F. Hegel
Der Held ist selbst
der Sprechende, und die Vorstellung zeigt dem Zuhörer, der
zugleich Zuschauer ist, selbstbewußte Menschen,
die ihr Recht und ihren Zweck, die Macht und den Willen ihrer
Bestimmtheit wissen und zu sagen wissen.
Sie sind Künstler, die nicht, wie die das gemeine Tun im wirklichen
Leben begleitende Sprache, bewußtlos, natürlich und naiv das Äußere ihres
Entschlusses und Beginnens aussprechen, sondern das innere
Wesen äußern, das Recht ihres Handelns beweisen und das Pathos,
dem sie angehören, frei von zufälligen Umständen und von der
Besonderheit der Persönlichkeiten in seiner allgemeinen Individualität
besonnen behaupten und bestimmt aussprechen. Das Dasein dieser
Charaktere sind endlich wirkliche Menschen,
welche die Personen der Helden anlegen und diese in wirklichem,
nicht erzählendem, sondern eigenem Sprechen darstellen. [pp.
534/535]
Das Selbstbewußtsein der
Helden muß aus seiner Maske hervortreten und sich darstellen,
wie es sich als das Schicksal sowohl der Götter des Chors als
der absoluten Mächte selbst weiß und von dem Chore, dem allgemeinen
Bewußtsein, nicht mehr getrennt ist. [p. 541]
Die reinen Gedanken
des Schönen und Guten zeigen also
das komische Schauspiel, durch die Befreiung von der Meinung,
welche sowohl ihre Bestimmtheit als Inhalt wie ihre absolute
Bestimmtheit, das Festhalten des Bewußtseins enthält, leer
und eben dadurch das Spiel der Meinung und der Willkür der
zufälligen Individualität zu werden.
Hier ist also das vorher
bewußtlose Schicksal, das in der leeren Ruhe und Vergessenheit
besteht und von dem Selbstbewußtsein getrennt ist, mit diesem
vereint. Das einzelne Selbst ist
die negative Kraft, durch und in welcher die Götter sowie deren
Momente, die daseiende Natur und die Gedanken ihrer Bestimmungen,
verschwinden; zugleich ist es nicht die Leerheit
des Verschwindens, sondern erhält sich in dieser Nichtigkeit
selbst, ist bei sich und die einzige Wirklichkeit. Die Religion
der Kunst hat sich in ihm vollendet und ist vollkommen in sich
zurückgegangen. Dadurch, daß das einzelne Bewußtsein in der
Gewißheit seiner selbst es ist, das als diese absolute Macht
sich darstellt, hat diese die Form eines Vorgestellten,
von dem Bewußtsein überhaupt Getrennten und
ihm Fremden verloren, wie die Bildsäule, auch die lebendige
schöne Körperlichkeit oder der Inhalt des Epos und die Mächte
und Personen der Tragödie waren; – auch ist die Einheit nicht
die bewußtlose des Kultus und der Mysterien, sondern
das eigentliche Selbst des Schauspielers fällt mit seiner Person
zusammen, so wie der Zuschauer in dem, was ihm vorgestellt
wird, vollkommen zu Hause ist und sich selbst spielen sieht.
Was dies Selbstbewußtsein anschaut, ist, daß in ihm, was die
Form von Wesenheit gegen es annimmt, in seinem Denken, Dasein
und Tun sich vielmehr auflöst und preisgegeben ist, es ist
die Rückkehr alles Allgemeinen in die Gewißheit seiner selbst,
die hierdurch diese vollkommene Furcht- und Wesenlosigkeit
alles Fremden und ein Wohlsein und Sichwohlseinlassen des Bewußtseins
ist, wie sich außer dieser Komödie keines mehr findet. [pp. 543/544]
Durch
die Religion der Kunst ist der Geist aus der Form der Substanz in
die des Subjekts getreten, denn sie bringt seine
Gestalt hervor und setzt also in ihr das Tun oder
das Selbstbewußtsein , das in der furchtbaren Substanz
nur verschwindet und im Vertrauen sich nicht selbst erfaßt.
Diese Menschwerdung des göttlichen Wesens geht von der Bildsäule
aus, die nur die äußere Gestalt des Selbsts an ihr
hat, das Innere aber, ihre Tätigkeit, fällt außer
ihr; im Kultus aber sind beide Seiten eins geworden, in dem
Resultate der Religion der Kunst ist diese Einheit in ihrer
Vollendung zugleich auch auf das Extrem des Selbsts herübergegangen;
in dem Geiste, der in der Einzelheit des Bewußtseins seiner
vollkommen gewiß ist, ist alle Wesenheit versunken. Der Satz,
der diesen Leichtsinn ausspricht, lautet so: das Selbst
ist das absolute Wesen ; das Wesen, das Substanz und an
dem das Selbst die Akzidentalität war, ist zum Prädikate heruntergesunken,
und der Geist hat in diesem Selbstbewußtsein, dem
nichts in der Form des Wesens gegenübertritt, sein Bewußtsein verloren.
[p. 545]
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie
des Geistes. Bamberg & Würzburg: Goebhardt, 1807.
(Ch.
VII B. Die Kunstreligion.) [Page numbers from: G.W.F. Hegel: Werke,
Band 3. Frankfurt a. M., 1979.]
Ludwig van Beethoven
[...] das notwendige, allmächtige,
allvereinende [...] Wort, das der erlöste Weltmensch aus die
Fülle des Weltherzens ausruft, das Beethoven als Krone auf
die Spitze seiner Tonschöpfung setzte. Dieses Wort war: ––– Freude! Und
mit diesem Worte ruft er den Menschen zu: "Seid umschlungen,
Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!" ––– Und dieses Wort
wird die Sprache des Kunstwerkes
der Zukunft sein. –––
Die letzte Symphonie Beethovens ist die Erlösung der
Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen
Kunst.
Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft.
Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie
unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft:
das allgemeinsame
Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen
Schlüssel geschmiedet hat.
Richard Wagner: Das Kunstwerk
der Zukunft. Leipzig: Otto Wigand, 1850; pp. 93/94.
[Re: Ludwig
van Beethoven: Symphony No. 9 (Opus 125), 1824.
Final chorus based on Friedrich Schiller's "An die Freude" (1785/1803).]
The inner contradiction
and tragic antinomy of Beethoven's Ninth Symphony,
[...] is its betrayal of music itself [...] and its sacrifice
of music's unutterable mysteries to the Word, to the commonly
comprehensible symbol of the universal unanimity of thought
– a betrayal of personality and a renunciation of its highest
claims in the name of love and universal truth.” "The
extreme daring of the individual spirit passes into its opposite:
into the negation of the individual for the sake of the universal
idea.”
"Perhaps once again genuine tragedy will arise from the matrix of music;
perhaps the resurrected dithyramb will 'prostrate millions
into the dust' as
is sung in the only dithyramb of the new world – the 9th Symphony of Beethoven."
Vyacheslav Ivanov: "Ellinskaia
religiia stradaiushchego boga. Opyt religiozno-istoricheskoi
kharakteristiki" [The Hellenic religion of the suffering
god. An essay in religious-historical description]. Novyi
put', no. 1-9 (January-September 1904). (Reprinted in: Sobranie
sochinenii [Collected Works]. 4 vols. Brussels: Foyer
Oriental Chrétien, 1971-1987. [Vol. 1, pp. 730 ff.])
Man bedenke Adornos erschreckende
Randbemerkung zu den "umschlungenen Millionen" im
Jubelgesang An die Freude – ein einziges Wort: "Hitler"!
George Steiner: "Um
die Muse aufzumuntern." Rede zur Eröffnung
der Marbacher Sonderausstellung zu Schillers Leben und Werk
(April 23, 2005). Die Zeit, 2005, # 18 (April 28)
Aleksandr Ivanov
Aleksander Ivanov
[1806-1858] erwartete die baldige Verwirklichung des Himmelreichs
auf Erden. Nach seiner festen Überzeugung war das russische
Volk "Ergebnis aller Völker, die
bisher existiert haben. Von ihm hat die ganze Menschheit die
Gesetze zu erwarten, infolge derer das allgegenwärtige Reich
Gottes auf unserem Planeten Erde eintreten wird." [...]
als Hauptakteur der Verwirklichung des "goldenen Zeitalters" dachte
er sich den Zaren Nikolaj I., der aufgrund seiner uneingeschränkten
Macht dem Göttlichen am nächsten komme. Dieser müsse seine
historische Mission erkennen und annehmen, Christus ähnlich
werden und mit starker Hand die Führung in das Himmelreich
übernehmen. Da jedoch auch der Zar ein Mensch und damit fehlbar
ist, bedarf er der weisen Beratung und Lenkung durch einen
Künstler – Ivanov selbst. [p. 10.]
Er will einen "Tempel
des Himmelreichs" errichten.
Dieser soll [...]
die schöpferischen fähigkeiten der gesamten Menschheit in Anspruch
nehmen. Er sollte ihre Kräfte vollständig ausschöpfen, danach "wird
sie keine Kräfte mehr haben, um zu schaffen, sondern wird in
ewigen Frieden leben." [pp. 12/13.]
Verena
Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die
Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau,
2006.
Richard Wagner
Wer wird demnach aber der
Künstler der Zukunft sein? Der Dichter? Der Darsteller?
Der Musiker? Der Plastiker? –– Sagen wir es kurz: Das Volk;
dasselbige V0lk, dem wir selbst heut zu Tage das in unserer
Erinnerung lebende, von uns mit Entstellung nur nachgebildete,
einzige wahre Kunstwerk, dem wir die Kunst überhaupt einzig
verdanken.
Richard
Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Otto
Wigand, 1850, p. 220.
Eine Kunst der Sinnlichkeit
und des symbolischen Formelwesens (denn das "Leitmotiv" ist
eine Formel, – mehr noch: es ist eine Monstranz, es nimmt eine
fast schon religiöse Autorität in Anspruch) führt mit Notwendigkeit
ins Zelebrierend-Kirchliche zurück, – ja ich glaube, daß die
heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz alles Theaters der
Ritus ist, aus welchem er bei Heiden und Christen hervorgegangen.
Kirche und Theater, so weit auch ihre Wege auseinander gegangen
sind, so sind sie doch stets durch ein geheimes Band verbunden
geblieben; und ein Künstler, der, wie Richard Wagner, gewohnt
war, mit Symbolen zu hantieren und Monstranzen emporzuheben,
mußte sich schließlich als Bruder des Priesters, ja selbst
als Priester fühlen.
Thomas Mann: "Versuch
über das Theater" Nord und Süd,
January/February 1908. Repeated almost verbatim in: "Leiden
und Größe Richard Wagners" Neue Rundschau, 1933.
[Gesammelte Werke,
Frankfurt/M., 1990, Vol. X, pp. 53/54; Vol. IX, p. 366.]
[Wagners Schriften] enthalten
die Forderung nach Aufhebung von Kunst und Politik in einer
universalisierten Kunst. Das Musikdrama als moderne Neuschöpfung
des verlorengegangenen antiken "Gesamtkunstwerks" soll mittels der Verschmelzung
der Einzelkünste im Dienste eines mythischen Stoffes die Synthese
von Gefühl und Verstand bewirken. Indem es letztlich auch die
Trennung von Akteuren und Publikum aufhebt und einen idealen
Zustand freier und gleicher Partizipation erzeugt, wird das "Kunstwerk
der Zukunft" zum Modell der künftigen neuen Gesellschaft.
Verena Krieger: Kunst
als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die
Anti-Ästhetik der russischen Moderne. Köln: Böhlau,
2006, pp. 30/31.
Friedrich Nietzsche
Man verwandele das Beethoven'sche
Jubellied der “Freude” in ein Gemälde und bleibe mit
seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll
in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern.
Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die
starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder “freche
Mode" zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt,
bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit
seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen,
sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und
nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere.
Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer
höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt
und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.
[...] Als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt
und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch
ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt
der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen,
offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste
Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen,
der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Weltenkünstlers
tönt der eleusinische Mysterienruf: “Ihr stürzt nieder,
Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?”
Friedrich Nietzsche: Die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872),
Kapitel 1.
Aus dem dionysischen Grunde
des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit
den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat
und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist,
vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich Unerklärliche,
als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche
Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe
von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen
haben.
Friedrich Nietzsche: Die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), Kapitel
19.
Vladimir
Solov'ev
"Die Organisierung
unserer ganzen Wirklichkeit ist die Aufgabe eines universalen
Schöpfertums, der Gegenstand einer großen Kunst – die vom Menschen
zu schaffenden realisierung des göttlichen Prinzips in der
ganzen empirischen, natürlichen Wirklichkeit und die Verwirklichung
der göttlichen Kräfte unmittelbar im realen Sein der Natur
– die freie Theurgie." "Diese Aufgabe bestimme ich
als Aufgabe der Kunst, ihre Elemente finde ich in den Werken
der menschlichen Schöpfung, und ich übertrage somit die Frage
nach der Verwirklichung der Wahrheit in die ästhetische Sphäre."
Vladimir Solov'ev: Kritik der
abstrakten Prinzipien (1880). [Translations from:
Krieger 2006, pp. 61/62.]
Der Sinn der Kunst ist
die Fortsetzung der Schöpfung. Der Mensch ist nicht nur deren
höchstes Resultat, sondern kann und muss selbst schöpferisch
wirken. Das menschliche Schöpfertum dient der Vollendung des
göttlich-natürlichen Schöpfungsprozesses, zugleich der Wiederherstellung
der All-Einheit der Weltseele mit Gott. [...] Die Kunst [...]
wird [...] eine neue Betätigungssphäre erreichen, in der weltliches
Handeln, mystisch-religiöses Empfinden und Erkenntnis der Wahrheit
synthetisiert sind. [...]
Möglicherweise
handelt es sich hierbei um einen Reflex auf die zeitgenössische
neuere Erforschung der Psychophysiologie der menschlichen Wahrnehmung
insbesondere durch Helmholtz, Wundt und Mach, die ja den kreativen
Anteil der Apperzeption hervorhoben. [p. 69]
Solov'ev vermeidet es, seinen Transformationsanspruch
für den Kunst zu konkretisieren. Er sieht völlig klar, dass
die existierende Kunstformen sein Programm nicht erfüllen können,
spricht daher von neuen Kunstformen – ohne zu wissen, wie diese
aussehen könnten, und ohne [...] ernsthaft nach Anzeichen der
von ihm erwarteten neuen Entwicklung Ausschau zu halten. [p.
72]
Solov'ev's philosophy
as summarized and discussed by Verena Krieger in: Kunst
als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen
Moderne. Köln: Böhlau, 2006.
Aleksandr Skrjabin
Das "Mysterium" sollte
kein Kunstwerk im traditionellen Sinne sein, sondern eine die
gesamte Menschheit erfassende liturgische Handlung, die das
Ende der Universalgeschichte und die Auflösung von Raum und
Zeit in einen Zustand der ewigen Erlösung bewirken sollte.
Im ekstatischen Vollzug des "Mysteriums" sollte
die göttliche Evolution vollendet werden, die Rückkehr des
Geistes zu sichselbst und die Einheit des Universums mit Gott
realisiert werden. [...] Bei dem "Mysterium" sollte
die Trennung von Aufführenden und Publikum [...] aufgehoben
sein. Ursprünglich sollte die gesamte Menschheit mitwirken;
später beschränkte sich Skrjabin auf etwa 3000 Akteure, sogenannte
Eingeweihte, die durch gründliche Einweisung in hierfür eigens
eingerichtete Schulen auf das Ereignis vorbereitet werden sollten.
Diese Mitwirkenden sollten in konzentrischen Kreisen, hierarchisch
nach dem Grad ihrer Eingeweihtheit gestaffelt, um den selbst
in der Kreismitte stehenden Skrjabin herum aufgestellt werden
und im Verlauf der rituellen Handlung tanzend und singend
allmählich immer näher zueinander- und ineinanderrücken. Das "Mysterium" sollte
sieben Tage lange dauern, an deren Beginn vorbereitenden Handlungen
stehen wie die physische, moralische, ästhetische und geistige
Reinigung und Vorbereitung des Ortes; den Hauptteil sollte
eine Nachvollzug der Geschichte des Universums bilden; und
am Ende sollten alle Beteiligten in einer kollektiven erotischen
Ekstase die Dualität von Körper und Geist überwinden und sich
in einem orgiastischen "lebenschaffenden" Tanz in
einer höheren energetischen Zustand transfigurieren. [p. 80]
Als Ort der Realisation
stellte sich Skrjabin einen gewaltigen, durch Wasserspiegelungen
als Kugel erscheinenden halbkugelförmigen, mit Zinnen und Sternen
bekrönten Tempel mit zwölf Toren und ebensovielen riesigen
Pfeilern vor, der eigens zu diesem Zweck in Indien als der "Wiege
der Menschheit" errichtet
werden sollte. [p. 81]
Statt an der Verwirklichung des "Mysteriums" zu
arbeiten, begann Skrjabin im Jahr 1913 mit der Arbeit an dem
gleichfalls multimedial angelegten Werk "Vorbereitende
Handlung" (...), das die Menschheit auf das Mysterium
vorbereiten sollte, und für das er gleichfalls festlegte, dass es
keine Zuschauer geben dürfe, sondern jeder zugleich aktiver
Teilnehmer sein müsse – wenn nicht des Chores, so zumindest
des mit diesem verbundenen feierlichen Umzuges. [p. 84]
Verena Krieger about Aleksandr Skrjabin's
"Mysterium" project (1902-1915). In: Kunst
als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der
russischen Moderne. Köln:
Böhlau, 2006.
"From the bells emanates
a summons, directed to all of mankind. Upon
this call, everyone will travel to
India to the temple. They will be drawn to India because
there lies the cradle of humanity. That is where they came from.
So in India they
will also end their journey. The construction of
the Temple
will be part of the Mysterium as well." [p.
95]
"Theatre and stage
materialize art; they express the splitting
up of unity into polarities. Due to the stage, the spectators and
listeners become separated from what is taking place instead
of being drawn into the action. In my work there will
be no theatre! Even Wagner, in spite of his genius, could
not overcome the theatrical aspect and the stage, because he
did not understand what was at stake. He did not know
that the whole problem lies in this division. It prevents
unity and ensures that no experience, but only mere performance
is possible.[...] But in the Mysterium will
the stage be eliminated. In the Mysterium there will
be neither spectators, nor listeners." [p. 186]
Aleksandr Skrjabin, as quoted in:
Leonid Sabaneyev: Vospominaniya
o Skryabine [Reminiscences of Skrjabin]. Moscow: Gosudarstvennoe
Izdatelstvo, 1925. [Reprint: Moscow: Klassika 21, 2000.]
Scriabin [...] dreamed
of the communal participation of the spectator, but with
that insight of the genuine artist which was so intrinsic
a part of his nature, he gave to it a precisely ordered
character. In order to be admitted to the “action,” the
spectator had to be a specially prepared “initiate,” he
had to be robed in special dress, etc., etc. [...] If you
examine Scriabin's artistic goals, refracting them through
the prism of pure theatrical art, you will see that in
the end there was to have been achieved not an action
with the active participation of the spectator,
but action with the orderly, previously rehearsed participation
of the masses without any elements
of chance whatever – masses which, in fact, had ceased
to be spectators and
had become participants in the action, just as they
had to a lesser degree in productions with large mass scenes (for
instance Reinhardt's Oedipus Rex ).
Alexander Tairov: Zapiski
rezhissyora , Moscow, 1921,
[English translation: Notes of a Director. Coral
Gables, Florida: University of Miami Press, 1969, p. 139.]
Russian Symbolism
"Die Zuschauermenge
soll zu einem Chorkörper verschmelzen, gleich der mystischem
Gemeinde des alten Orgien- und Mysterienspiels." "Die
Bühne muss über die Rampe treten und die Gemeinde in sich aufnehmen,
oder die Gemeinde muss die Bühne absorbieren." [p. 112]
"Wir wollen uns versammeln,
um gemeinschaftlich zu schaffen, 'tätig zu sein', und
nicht, um nur zuzuschauen. [...] Genug des Mimens – wir wollen
Handlung." [p. 94]
"Die Organisation der
zukünftigen chorischen Handlung ist die Organisation der universalen
Volkskunst, und diese wiederum ist die Organisation der Volksseele." "Die
Theater der chorischen Tragödie, der Komödie und des Mysteriums
müssen Brandherde der schöpferischen [...] Selbstbestimmung
des Volkes werden." "Nur dann wird das Problem der
Verschmelzung von Schauspielern und Zuhörern zu einem orgiastischen
Körper endlich gelöst, wenn durch lebendige und schöpferische
Vermittlung des Chores das Drama dem Publikum nicht von außen
vorgesetzt, sondern innere Angelegenheit der Volksgemeinde
wird [...] und erst dann existiert wirkliche politische Freiheit,
wenn die Chorstimme dieser Gemeinde zu einem echten Referendum
des wahren Volkswillen wird." [p. 95]
Viacheslav Ivanov: “Predchuvstviia
i predvestiia: Novaia organicheskaia epokha i teatr budushchego”
["Premonitions and forebodings: The new organic epoch
and the theatre of the future"]. Zolotoe runo,
no. 4/6 (1906). [German translations quoted from Krieger 2006.]
Our nation's soul will [.
. .] be revealed in an artistry coming from the nation, summoned
forth by the nation. Then our artist and our nation will meet.
The country will be covered with orchestrae and thymelae, where
a round-dance will sing, where true mythopoesis [...] will
rise again in the action of a tragedy or comedy, a national
dithyramb or mysterium, where freedom itself will find hearths
for its full, unsullied, immediate self-affirmation (for choruses
will be a genuine expression and voice of the nation's will).
Then, for the first time, our artist will be only an artist,
a craftsman of the joyful craft, the executor of the commune's
creative commissions, the hand and voice of a crowd that knows
its beauty, and a vatic medium of the nation-artist.
Viacheslav Ivanov: "On
the Joyful Craft and the Joy of the Spirit." (1907) English
translation by Robert Bird in: Viacheslav Ivanov: Selected
Essays. (Ed. Michael Wachtel.) Evanston, Ill.: Northwestern
University Press, 2001. [p. 127]
Whatever the content of future tragedy
may be, it will not be able to get along without the dance.
[...] But the dance, I hope, will be choral. That is why
the footlights in the theatres must be removed. Today,
the theatre spectator participates only by observing
himself in the more or less crooked mirrors that are held up
to him from the stage; the next step in his participation
in the tragic action must be his participation in the tragic
dance. [...] The
action of the tragedy will be accompanied by and alternated
with the dance. Joyous dancing? Perhaps. In any case, more
or less frantic. Because dance is nothing else than the rhythmic
frenzy of body and soul, plunging into the tragic element of
music. [p. 98]
The whole world is only
the scenery behind which is hidden the creative soul – My soul.
Every earthly face and every earthly body is only a guise,
only a marionette [...]. But tragedy arrives upon the scene,
[...] and through the scenery there appears translucent a world
transfigured by Me, the world of My soul, the realization of
My sole will – and through the guises and appearances there
shines My sole image and My sole transfigured flesh. Flesh
beautiful and liberated. The rhythm of liberation is the rhythm
of the dance. The grandeur of liberation is the joy of the
beautiful, naked body. The dancing spectators will leave their
petty-bourgeois clothes at the door of the theatre. And
they race along in the light dance. So
the crowd, which came to watch, will be transformed by
the round dance, participating in the tragic
action. [p. 99]
Fedor Sologub: "Teatr odnoi voli" In: Teatr:
Kniga o novom teatre. St. Petersburg: Shipovnik, 1908.
English translation by Daniel Gerould: "The Theatre
of One Will" The Drama Review, Vol. 21, No.
4 (December 1977), pp. 85-99.
"[...] die Ausweitung
der Formen des künstlerischen Schaffens auf das Leben
[...] ist möglich, wenn sich die Grenze zwischen Kunst
und Leben in der religiösen Umgestaltung des Lebens verwischt.
Die einheit von Form und Inhalt und von Kunst und Leben ist
das Postulat jeglichen Symbolismus. Der Sinn der Kunst ist
nur religiös."
Andrej Belyj: "Smysl iskusstva" ("The
Meaning of Art"),
1908. In: Simvolizm, Moscow,
1910. [As quoted in: Krieger 2006, p. 129.]
"Der Symbolismus führt die Kunst
zu der schicksalshaften Linie, hinter der sie aufhört,
nur Kunst zu sein; sie wird zum neuen Leben und zur Religion
der freien Menschheit."
Andrej Belyj: "Über die
Ergebnisse der Entwicklung der neuen russischen Kunst" (1909).
In: Arabeski, Moscow, 1911. [As quoted in:
Krieger 2006, p. 130.]
"Das echte Schöpfertum
ist Theurgie, Gotteshandlung, gemeinsames Werken mit Gott." [p.
129]
"Kunst,
die eine neue Welt, ein anderes Sein, ein anderes Leben,
die Schönheit als Seiendes erschafft." [p. 263]
Nikolaj
Berdjaev: Smysl tvorchesta. (Der Sinn des Schaffens.) Moscow,
1916. [Cf. Krieger 2006, p. 140.]
Sowjet Socialism
"In socialist society the stage will
once again merge with the audience, and theatrical spectacles
with their division of spectator and actor will yield to collective
fêtes, ceremonial processions, mass choruses."
Vladimir M. Friche: "Teatr
v sovremennom i budushchem obshchestve," in: Krizis
teatra: Sbornik statei. Moscow: Problemy iskusstva, 1908,
p. 185. [English translation: Von Geldern, 1993, p. 34.]
In a solemn affirmation
of his penetration into the world beyond, Scriabin did not
speak the language of the individual will, rather with the
choral sound of the all-unity that he had elevated from the
depths. [...] Should the revolution that we are now experiencing
prove itself to be truly a great Russian revolution – a suffering
and painful birth of the "independent Russian Idea" – the future
historian will acknowledge Scriabin to be one of its spiritual
progenitors; and in this very revolution perhaps the first
measures of his unwritten Mysterium.
Vyacheslav Ivanov, “Skriabin i duch
revolutsii” [“Scriabin and the Spirit of the Revolution”] (Speech
to the Scriabin Society in Moscow, October 24, 1917). In: Viacheslav
Ivanov: Sobranie Sochinenii [Collected Works], Vol.
3 (Brussels: Foyer Oriental Chrétien, 1979), 190-194.
1. It is necessary to facilitate
however possible the inculcation, distribution, and development
of the chorus; to keep large choruses at the expense of the
municipality and to patronize the activity of choral societies; for
choruses to perform on
city squares on holidays; [. . .] to create
out of the chorus a vital and artistically effective
organ for the enthusiastic expression of popular thought
and popular will.
2. It is necessary to strive
to adapt the popular celebrations to the forms of rite, lending
it the character of cogent lyrical-dramatic unity that develops
its main idea in the harmonious continuity of the whole.
[. . .]
3. In the summer it is necessary
to perform selected works from the existing theatrical repertory
[. . .] on large stages and round arenas set up under the open
sky [. . .] which would serve as a true sign that they are
inwardly consistent with the element of grand, universal art,
insofar as everything private, individual, isolated, sick,
and vulgar would fall away by itself, yielding its place to
the depiction of heroic actions, national movements, and, finally,
to the ideal element in the symbolic images of myth, fairy
tale, and legend.
Such an initiative could
give rise to original forms of spiritual collectivism.
Viacheslav Ivanov. In: Vestnik
teatra, no 26 (14-16 May 1919), p. 4. [English translation:
Robert Bird: The
Russian Prospero. The Creative Universe of Viacheslav Ivanov. Madison,
Wisconsin: The University of Wisconsin Press, 2006, pp. 32/33.
Bird (p. 33) mentions that the quoted passage was "incorporated
almost word for word into the resolution adopted by the Conference
on Adult Education held by Narkompros". ]
1. The theater is a temple.
2. Universality.
3. Monumentality.
4. Creativity of the masses.
5. An orchestra of the arts.
6. The joy of labor.
7. Transfiguration of the world.
Nikolai G. Vinogradov-Mamont, 1919.
In: Krasnoarmeiskoe chudo, p. 13/14. Leningrad: Iskusstvo,
1972. [English translation: Von Geldern, 1993, p. 123.]
The people must create a theater from its cultic rituals.
[...] The foundation of the theater of the future will be the
drama of the choral dance.
Vsevolod Vsevolodskii-Gerngross.
Lecture at the TEO Subsection for Worker-Peasant Theater, 1919.
[As quoted in: Von Geldern, 1993, p. 137.]
We must invite on the one
hand proletarian collectives [...] and on the other hand individual
artists [...] whose ideology inclines toward the proletariat,
who can merge with it in a single creative impulse. These people
of art are the artistic leaders of the masses; they arouse the
creative urge of the masses and find the appropriate forms to
express their enthusiasm. On their part the proletarian collectives
contribute to the festival their internal content – i.e., the
revolutionary pathos, their intoxication, orgiasm – without which
a mass theatrical drama cannot be created.
P. S. Kogan: "Plan pervogo narodnogo
deistva-prazdnestva," Vestnik teatra, no. 46 (1919),
p. 5.
[English translation: Von Geldern, 1993, p. 136.]
Joseph Beuys
Das einfache Anschauen
eines Menschenantlitzes ist schon in sich etwas Sakramentales.
Joseph Beuys. In: Horst Schwebel: Glaubwürdig.
Fünf Gespräche über heutige Kunst und Religion mit Joseph
Beuys, Heinrich Böll, Herbert Falken, Kurt Mari, Dieter Wellershoff.
München: Kaiser Verlag, 1979, p. 27.
Ich spreche jetzt vom
Menschen, als einem Künstler, der Kreator ist. Damit nehme
ich einen Begriff von Gott. Ich nehme einen Begriff von Gott
und gebe den Begriff dem Menschen, aber das brauche ich ja
nicht zu tun, denn ich bin ja viel zu schwach. Das ist ja
bereits durch Christus geschehen. Die Tat, die den Menschen
frei machen wird und die Christus im Menschen bedeutet und
den Souverän im Menschen herausbildet, ist bereits getan. Aber
es wird verschwiegen. Es wird durch die materialistischen Ideologien
verschwiegen, es wird auch durch Kirchen totgeschwiegen. Das
sind die eigentlichen Zusammenhänge unserer, sagen wir einmal
schlicht, unserer Anthropologie, unseres Menschtums. Der Mensch
wird totgeschwiegen aus eben diesen Machtinstinkten, die zum
Niedergang geführt haben.
Joseph Beuys. In: Reden über
das eigene Land: Deutschland (3), München
1985, pp. 33-52. [p. 41.]
Ich denke, daß das eines
der wichtigsten Ergebnisse eines erweiterten Kunstbegriffes
ist: den Menschen als Künstler zu bezeichnen, weil er einer
ist – jeden Menschen als einen Künstler zu bezeichnen,
weil er einer ist, weil er ja doch nichts anderes ist als derjenige,
der in die Verhältnisse, z.B. in die Stoffeswelt so eingreift,
daß irgendein Produkt zustande kommt, daß irgendeine Gestalt
zustandekommt – daß also dieser Mensch als Träger von Fähigkeiten
begriffen wird, und daß mit diesem Komplex der Ausgangspunkt
bezeichnet ist [...]. Dieser Ausgangspunkt findet
statt in dem Wirken menschlicher Kreativität. Dieses Wort
enthält wieder eine lateinische Wurzel und ist von Gott genommen.
Hier wird vom Menschen etwas behauptet, als wäre er ein Gott.
Ich glaube, das entspricht einer objektiven Realität in bezug
auf den Werdegang des Menschen: heraus nämlich aus seinem Geführtwerden
durch Götter hin zu seinem Sich-Selbst-Finden und selbst
ein göttliches Wesen zumindest in sich zu bemerken.
Joseph Beuys: Aktive Neutralität.
Die Überwindung von Kapitalismus und Kommunismus. Ein Vortrag
mit Diskussion am 20. Januar 1985. Wangen: Freie Volkshochschule
Argentai, 1985, p. 14.
HS: "Wird hier nicht
der Kunstbegriff überfordert? Kann Kunst denn all dies leisten,
was sonst Christentum und Kirche zu leisten hätten?"
JB: "Die Kunst muß das leisten,
sonst ist sie keine Kunst mehr. Mit dem herrschenden Kunstbegriff
ist das natürlich nicht zu leisten. Kunst kann nicht mehr das
sein, was sie war. Der Begriff muß totalisiert werden. D. h.
er muß sich auf jedermann beziehen, er kann sich nicht nur
auf den "Künstler" beziehen. In der Vergangenheit hat sich
die Kunst bezogen auf die engere Kultur, ganz speziell auf
die Malerei und Bildhauerei, die Dichtkunst usw., also auf
die Disziplinen. Aber so kommen wir nie zu einer anthropologischen
Dimension von Kreativität. Ich totalisiere den Begriff und
habe dann eine Begründung für den Begriff Kreativität. Ohne
diese Begründung ist der Begriff rein modisches Geschwatz." [pp.
39/40]
JB: "Es müßten also neue
Institutionen entstehen, und sie werden auch entstehen und
werden die alten kirchlichen ablösen. So wie es einmal Monte
Cassino gegeben hat, wird es in der Zukunft etwas anderes geben,
in dem Augenblick, wo die Menschen erkennen werden, daß die
Aussagen über das Wesen des Christlichen gar nicht mehr aus
den Kirchen kommen können, daß sie aus dieser Ecke nichts mehr
zu erwarten haben." [p. 42]
Joseph Beuys talking to Horst Schwebel.
In: Horst Schwebel: Glaubwürdig. Fünf Gespräche über heutige
Kunst und Religion mit Joseph Beuys, Heinrich Böll, Herbert
Falken, Kurt Mari, Dieter Wellershoff. München: Kaiser
Verlag, 1979.
|